Heute geht er nicht zur Arbeit. Das braucht er heute wirklich nicht. Er will den Tag nicht mit mir verbringen, aber ich bin trotzdem vorbeigekommen.
Er geht zur Kommode. Auf ihr steht eine schlichte Vase mit einer dunkelroten Rose. Er öffnet die Kommodenschublade seiner Ehefrau. Sie ist nicht abgeschlossen. Das braucht sie nicht. Sie vertraut ihm. Ihr Tagebuch, in das sie gelegentlich schreibt, ist dann aber doch verschlossen, merkt er. In der Schublade sind noch weitere Dinge drin, die eine Frau meint haben zu müssen.
Eine Schmuckschatulle zum Beispiel. In ihr ein altes Medaillon. Es ist ein Familienerbstück, was sie von ihrer Mutter geschenkt bekam. Später einmal soll sie es an ihre Kinder weitergeben. Sie trägt es nicht. Sie meint, es steht ihr nicht, doch kennt er den wahren Grund.
In der Schatulle findet er alte Briefchen von ihrem Liebsten. Die liest sie immer gern mal wieder. Er hat ihr schließlich schon lange keinen mehr geschrieben. Obwohl sie diese eigentlich schon auswendig kennt, gehen ihr diese paar Zeilen jedes Mal wieder unter die Haut. Langsam bemerkt sie dabei, wie sie vom Rücken aufwärts bis hin zum Nacken eine leichte Gänsehaut bekommt. Wie sich die kleinen Härchen aufrichten. Es ist ihr nicht unangenehm. Sie mag dieses Gefühl. Vielleicht auch gerade deshalb, weil sie es schon länger vermisst.
Wahllos nimmt er einen von diesen kleinen Briefchen aus der Schatulle: Auf dem Umschlag ist eine große Zahl geschrieben. Er ist von ihrem 28. Geburtstag. Im Umschlag ist eine Postkarte von Paris. Die Ecken sind schon ganz abgenutzt. Sie ist unbeschrieben. Das hatte er ganz vergessen. Es war damals ein symbolisches Geschenk von ihm. Ja nach Paris. Da will sie schon immer mal hin. Doch geklappt hat es bis heute nicht. Sie träumt davon in einem Cabrio durch "die Stadt der Liebe" zu fahren mit dem warmen Wind in ihrem Haar. Einmal würde ihr schon reichen. Das ist ihr Traum. Er legt ihn schnell zurück. Einen weiteren nimmt er, legt ihn dann aber zurück und schließt die Schatulle.
Frauenzeitschriften sind zu Hauff in der Schublade. Sie liest gerne diese Zeitschriften, wenn sie einsam ist. Einsam ist sie viel, weil sie keine Kinder bekommen kann. Man musste ihr die Gebärmutter entfernen. Er muss auch viel arbeiten. Die Firma läuft eher schlecht als recht. Manchmal, wenn sie einsam ist, steigt sie auf den Dachboden. Sie schaut aus dem kleinen Dachfenster und das warme Sonnenlicht strahlt sanft auf sie nieder. Aber davon weiß er nichts. Das sind ihre kleinen Geheimnisse. Ein kleiner Spatz flattert auf das Fensterbrett. Sie hat ihm Brotkrumen hingelegt. Er pickt daran. Dann schnappt er sich ein ganzes Stück und fliegt davon.
Er holt ein in Seidenpapier verpacktes Päckchen aus der Schublade. Es ist nicht irgendein Päckchen. Für sie ist es ein besonderes Päckchen. Das Papier knisterte kaum. Eben wie Papier kaum knistert, wenn es häufig auf und zu gemacht wurde. Es duftet leicht nach dem Holz der Schublade und nach seiner Frau. Es ist ein vertrauter Geruch. Er wirft es nicht weg. Sanft legte er es beiseite. In dem Päckchen ist Unterwäsche. Für einen kurzen Augenblick atmet er erregt. Er betrachtet die Seide und die Spitze. Dann sagt er lächelnd: "Das habe ich ganz vergessen. Diese kaufte ich für sie, als wir zum ersten Mal in Berlin waren. Das ist jetzt 8 oder 9 Jahre her. Sie trägt es nie. Sie möchte es für eine ganz besondere Gelegenheit aufbewahren. Und jetzt, glaube ich, werde ich entscheiden, dass der richtige Moment gekommen ist!"
Gestern Mittag rief sie bei ihm in der Firma an. Sie freut sich, wenn er mal von der Arbeit aus bei ihr anruft. Aber das macht er zu selten, findet sie. Also rief sie an. Auch weil sie sich den Abend vorher gestritten hatten. Es ging um nichts Schwerwiegendes und sicher kann man sich in ein, zwei Wochen schon nicht mehr daran erinnern. Aber sie mag es einfach nicht, wenn sie im Streit auseinander gehen. Er war mit Kollegen gerade in der Mittagspause und nahm das Gespräch nicht an. Die Frau im Büro sollte ausrichten, dass er bald zurückruft.
Als er dann gestern, am frühen Abend, nach Hause kam, war sie nicht da. Dabei war es für sie ein besonderer Tag. Er kam extra etwas früher und mit einer dunkelroten Rose in der Hand. Er machte sich Sorgen und war heilfroh als er sie auf dem Dachboden in dem bewegungslosen Schaukelstuhl, von ihrem Großvater, eingehüllt in eine große, flauschige, weiße Decke fand. Er war schon ewig nicht mehr da oben. Leise näherte er sich ihr. Sie schlief. Ganz entspannt sah sie aus, als wenn sie meilenweit weg ist. Die Abendsonne schien ihr wohlig warm ins Gesicht. Wovon sie wohl gerade träumt? Er merkte, dass er sie schon eine Ewigkeit nicht mehr so genau ansah. Das Gesicht empfand er, wie schon vor 13 Jahren, als sie sich zum ersten Mal sahen, als wunderschön. So gutmütig sind ihre Gesichtszüge. So zart ihre Haut. Erste Fältchen sah er aus Liebe nicht. Plötzlich platzte es recht laut aus ihm heraus: "O Gott, Wie Sehr Liebe Ich Dich!" Doch sie hörte es glücklicherweise nicht. So konnte er diesen wunderschönen Augenblick noch ein wenig genießen. In ihrem Schoß das Telefon. Er bekam ein schlechtes Gewisses als ihm einfiel, dass er zurückrufen wollte. Nun brauchte er nicht mehr anrufen. In ihren sanften Händen ein Buch. Es ist kein besonderes Buch. Trotzdem ist es wohl ihr Lieblingsbuch, sonst hätte sie es nicht schon so oft gelesen. Er wird es sicher auch bald lesen. Es geht darin um alltägliches. Kein Mord und Totschlag. Einfach nur das schöne Leben ohne Sorgen, wie es, wie ein kleiner Bach, munter vor sich hinplätschert. Fast zu kitschig. Wie er sie so betrachtet, wie sie hier oben im Schaukelstuhl sitzt, fällt ihm vieles ein, was er schon längst vergessen hatte. Damals, als sie das Haus zum ersten Mal besichtigten, waren beide noch voller Tatendrang. Eine Gaube sollte her. Große Fenster in die Giebelseiten für mehr Licht. Zwei Kinderzimmer sollten entstehen.
Er erschrickt als er merkt, dass er ganz in Gedanken immer noch das Päckchen in der Hand hält und ich ihn schon eine geraume Zeit beobachte. Er war so in Gedanken versunken. Da wollte ich ihn nicht stören. Er nimmt die Unterwäsche aus dem Karton. Der Tropfen einer Träne auf der Wäsche scheint ihn nicht zu stören. Er nähert sich dem Bett. Dort legt er die Wäsche zu den anderen Sachen, die von dem Bestattungsinstitut mitgenommen werden. Seine Frau ist gestorben. Sie wurde gerade 37. Gestern Nachmittag. Auf dem Dachboden im Schaukelstuhl.
Es ist warm. Es ist ein schöner Tag. Kalt wirkt der eiserne Turm in der Silhouette. Neben mir, ein Mann, wie ich ihn kaum kenne. Es ist schwer für ihn - auch für mich. Er vermisst sie, weil sie fort ist. Ich vermisse ihn, obwohl er da ist. Wir stehen am Ufer des Flusses. Stillschweigend. Mit einer Handdrehung weht Asche aus einer Urne. Eine leichte Briese begleitet sie ein Stück. Manchmal etwas weiter, manchmal etwas näher berührt sie die Wasseroberfläche und legt sich auf ihr nieder. Schnell ist die Strömung und schnell ist sie hinfort im Großstadtlärm. Gegenüber dröhnt der undurchdringliche Verkehr auf der Uferstrasse. Ein weißes Cabrio fährt vorbei. Man erkennt einen hellen Seidenschal, wie er im warmen Sommerwind weht...
-Axel Schlüter-
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diese Geschichte liegen beim Autor (Axel Schlüter). Die Geschichte wurde auf Wunsch von Axel Schlüter auf e-Stories.de aufgenommen - Vielen Dank! Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.08.2002. - Infos zum Urheberrecht
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