Ein realistisches Szenario für 2023 von Sven Weisenhaus Nun aber zum aktuellen Geschehen an den Börsen. Und hier lässt sich leider feststellen, dass manches im neuen Jahr leider nichts anders ist als im alten. So begründen diverse Medien die Kursentwicklung an den Börsen in den vergangenen Tagen immer wieder auf die gleiche Weise: Steigen die Kurse am Aktienmarkt, so wird dies mit nachlassenden Zinssorgen erklärt, fallen die Kurse, so sind dafür zunehmende Zinssorgen verantwortlich. In den meisten Fällen sind diese Begründungen aber wenig plausibel. Und das war leider auch in den vergangenen Jahren schon so. Man hat also nichts dazugelernt.
Der Markt glaubt den Notenbanken weiterhin nicht Wobei die Argumentation sicherlich nicht völlig falsch ist, wenn man hierzulande das milde Winterwetter, in China die Öffnungen von den Corona-Einschränkungen und weltweit die gesunkenen und anhaltend niedrigeren Energiepreise als Kurstreiber für den starken Jahresauftakt außen vor lässt und sich nur auf das Thema Zinsen fokussiert. Denn in der Tat findet auch im neuen Jahr ein Kampf um die Erwartungen bezüglich der zukünftigen Zinsentwicklung statt. Und die Aktienmärkte konnten auch deshalb deutlich zulegen, weil die Marktteilnehmer wieder mehrheitlich der Meinung sind, dass die Leitzinsen Mitte des Jahres ein Hoch erreichen und es danach bereits wieder zu Senkungen kommen wird.
Die Notenbanken mühen sich derweil ab, eine andere Einschätzung in die Köpfe der Anleger zu bekommen, insbesondere die Zentralbank der USA. Denn erneut haben sich einige Fed-Mitglieder dahingehend geäußert, dass der Leitzins noch auf über 5 % erhöht wird und dieses Niveau für eine lange Zeit gehalten wird, bis die Inflation zu ihrem Zielwert von 2 % zurückgekehrt ist. Dabei wurde auch recht deutlich gemacht, dass die Rallye am Aktienmarkt der strafferen Geldpolitik entgegenwirkt und die teils starken Kurserholungen daher von der Notenbank nicht gewünscht sind. Doch die Währungshüter haben große Probleme, ein Umdenken bei den Anlegern herbeizuführen.
Liegt der Rentenmarkt richtig? Das Verhalten der Anleger am Rentenmarkt ist derweil durchaus nachvollziehbar. Denn in den aktuellen Konjunkturdaten ist eine Rezession immer deutlicher abzulesen. Und die Notenbank sorgt mit ihren massiven Zinsanhebungen dafür, dass die Wirtschaft abgebremst wird und eine Rezession auch dadurch immer wahrscheinlicher erscheint. Um die Wirtschaft am Ende wieder in Gang zu bekommen, sind womöglich Zinssenkungen nötig. Und so erscheinen diese in der zweiten Hälfte des begonnenen Jahres durchaus im Bereich des Möglichen.
Setzen die Aktienmärkte auf eine nur moderate Rezession? Weniger plausibel ist vor diesem Hintergrund die Rallye am Aktienmarkt. Denn wenn es mit der Wirtschaft bergab geht, bis hin zu einer Rezession, und das der Grund für die Erwartung sinkender Leitzinsen ist, dann sollte es mit den Aktienkursen eigentlich tendenziell auch bergab gehen. Es sei denn, man geht davon aus, dass die wirtschaftliche Schwäche moderat ausfällt und nur vorübergehend ist. Dann kann man bereits jetzt auf einen wirtschaftlichen Aufschwung setzen. Diese Denkweise würde die steigenden Aktienkurse begründen. Dann wären allerdings niedrigere Leitzinsen im zweiten Halbjahr 2023 unnötig bzw. unwahrscheinlich.
Best Case: Moderater Wirtschaftsabschwung bei sinkender Inflation Daher sind die aktuellen Entwicklungen an den Renten- und Aktienmärkten nur dann plausibel, wenn es neben einer nur moderaten Delle im Konjunkturverlauf zugleich zu einer deutlich nachlassenden Inflation im Verlauf des Jahres kommt. Denn eine nur kurze und moderate Rezession begründet, wie bereits geschrieben, steigende Aktienkurse. Schließlich nimmt die Börse die Zukunft vorweg. Und wenn die konjunkturelle Delle nur moderat ausfällt und es danach wieder zu Wirtschaftswachstum kommt, sind steigende Aktienkurse grundsätzlich folgerichtig. Lässt zugleich die Inflation im Laufe des Jahres stark nach, wäre es auch plausibel, dass die Leitzinsen bereits in der zweiten Jahreshälfte entsprechend reduziert werden können, und zwar aus folgendem Grund:
Die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) hat als Strategie ausgegeben, den Leitzins bis oberhalb der Inflationsrate anzuheben. Und sie sagt, sie wolle den Leitzins auf knapp über 5 % hieven. Nehmen wir nun an, die Inflation der USA fällt zur Jahresmitte auf ?nur noch? 5 %. Dann wäre das Ziel der Fed zu diesem Zeitpunkt erreicht. Nehmen wir nun auch an, dass die Inflation bis zum Jahresende weiter sinkt. Dann wären Leitzinsen von über 5 % nicht mehr notwendig. Die Währungshüter könnten daher die Leitzinsen im Tempo der abnehmenden Inflation senken. Und damit würden die Märkte mit ihrer Erwartung aktuell vollkommen richtig liegen.
Ein realistisches Szenario, auch für die Fed Ich halte ein solches Szenario für möglich. Und es ist sogar denkbar, dass dies die US-Notenbank ebenso tut. Allerdings konterkariert die aktuelle Aktienmarktrallye ihren Plan, weil steigende Aktienkurse die finanziellen Bedingungen lockern. Die Notenbank will sie im Kampf gegen die Inflation aber straffen. Und daher ist sie derzeit noch bemüht, die Markterwartungen zu beeinflussen, damit das Ziel von Zinsen oberhalb von 5 % erreicht werden kann.
Das Problem daran ist, dass die Börse zukünftige Entwicklungen vorwegnimmt, so auch jetzt. Sie setzt bereits auf die zukünftig sinkenden (Leit-)Zinsen. Und das führt zu einer Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Geschehen auf den Märkten und den Plänen der Fed, weil die Notenbank steigende Zinsen will, der Markt aber bereits niedrigere Zinsen einpreist.
Lassen Sie sich davon nicht irritieren. Denn es lässt sich ja alles durchaus plausibel erklären. Die Frage ist nur, ob es der Markt durchhält, sich gegen die Pläne der Notenbanken zu stellen. So könnte zum Beispiel eine Wortmeldung von Fed-Chef Jerome Powell dem Markt jederzeit wieder einen deutlichen Dämpfer verpassen.
|