Die Risikokalkulation des Versicherers AIG für CDS war fehlerhaft. Kein Manager hat rechtzeitig die Konsequenzen erkannt. Eine sonderbare Rolle spielte Gary Gorton.
Carrick Mollenkamp, Serena Ng und Liam Pleven
THE WALL STREET JOURNAL 11.11.2008
Wie sagte schon Warren Buffett: «Finger weg von diesen Freaks und ihren Formeln!» Seit Jahren warnt er davor, die Risikokalkulation auf komplizierte Computermodelle aufzubauen. Wie Recht er hat, zeigt sich an der Geschichte von Gary Gorton, einem 57 Jahre alten Finanzprofessor in Yale, der eine zentrale Rolle beim Beinahezusammenbruch des Versicherungskonzerns American International Grotte (AIG) spielt. Gorton studierte Mandarin, fuhr Taxi und begann dann seine akademischen Titel, darunter einen Doktor der Wirtschaft, zu erwerben. Besonders interessierte ihn, wie Banken Risiken abwälzen und Kredite an Investoren verkaufen können. Gortons Nebenjob: Er entwickelt Computermodelle, mit deren Hilfe AIG die Risiken von höchst komplizierten Konstrukten mit einem Gesamtumfang von mehr als 400 Mrd Dollar, den sogenannten Credit Default Swaps (CDS), Versicherungen gegen den Ausfall von Schuldnern, berechnete.
AIG verliess sich auf die Modelle, kalkulierte jedoch nicht ein, wie Marktentwicklung und Vertragsbedingungen diese Swaps kurzfristig in enorme Verbindlichkeiten verwandeln können. Gorton wurde nicht damit beauftragt, dies einzubeziehen, was den AIG-Managern auch bewusst war. Nun haben diese Risiken den Versicherer etliche Mrd Dollar gekostet. Zweimal mussten Notenbank und US-Regierung zur Rettung einspringen: Im September und Anfang dieser Woche. Wurde alles richtig verstanden?
Dabei stellen sich folgende Fragen: Haben sich Firmen wie AIG auf die lukrativen, aber gefährlichen Geschäfte eingelassen, ohne sie ganz zu verstehen? Machte es die Komplexität dieser Finanzprodukte unmöglich, die Risiken genau zu kalkulieren? Und haben sich die Unternehmen zu sehr auf Computermodelle verlassen?
Die Finanzprodukteabteilung von AIG wurde 1987 gegründet. Ende der 1990er Jahre wurde Gorton dort Berater. Nach Schätzungen lag bereits sein Anfangshonorar zwischen 200 000 und 1 Mio Dollar pro Jahr. 1998 begann AIG mit dem Verkauf von CDS, über die der damalige AIG-Chef Joseph Cassano sagte: «Gorton hat mich überzeugt, dass sie hervorragend sind!» Wie Moodys Investor Service kürzlich meldete, wurde AIG zu einem der grössten Verkäufer dieser Kreditversicherungen. Ab 2004 wurden die CDS immer komplizierter, und AIG begann auch sogenannte CDO, strukturierte Kreditversicherungsprodukte, die zum Beispiel durch Hypothekenanleihen gesichert waren, anzubieten.
Wegen der wachsenden Besorgnis über die Lockerung der Kreditstandards wurde der Verkauf dieser Produkte Ende 2005 wieder eingestellt. Doch damals steckten in diesem Bereich bereits 80 Mrd Dollar. Man fürchtete, das Modell sei «nicht fähig, mit niedrigeren Underwriting-Standards umzugehen», erklärte Gorton den Investoren Ende Dezember 2007 in einem Schreiben. Als Mitte 2007 die Immobilienpreise sanken, verloren auch die Hypothekenanleihen an Wert. AIGs Partner wurden unruhig. Im August 2007 verlangte Goldman Sachs 1,5 Mrd Dollar zusätzlicher Sicherheit, da die gesicherten Vermögenswerte, eben die Immobilien, an Wert verlören. AIG zahlte nach längeren Diskussionen 450 Mio Dollar. Ende Oktober 2007 verlangte Goldman weitere 3 Mrd und erhielt 1,5 Mrd Dollar. Goldman sicherte sich dann angeblich dadurch ab, dass CDS auf AlGs Schulden gekauft wurden.
Im vergangenen Dezember fand ein Treffen mit den Investoren statt, wo Martin Sullivan, damals noch CEO, erklärte, AIG fühle sich «sehr beruhigt» dank der Computermodelle. Gorton versicherte: «Es wird keine Transaktion genehmigt, die nicht auf einem von uns entwickelten Modell basiert.» Mittlerweile wird vom Bundesstrafgericht untersucht, ob die Anleger absichtlich hinters Licht geführt wurden. AIG musste 50 Mrd Dollar an seine Partner zahlen, um den starken Wertverfall bei den durch CDS besicherten Sicherheiten auszugleichen. Nach der Rettungsaktion durch die US-Regierung wurden aber weitere Zahlungen fällig, sodass spekuliert wird, die USA müssten AIG noch mehr Steuergeld leihen. Künftige Ausfälle nicht berechnet
AIG verkaufte Absicherungen in Milliardenhöhe, die durch die verschiedensten Assets besichert waren, und versprach den Investoren, man würde sie bei einem Ausfall der Kreditversicherungen auszahlen. Nun hat AIG drei Probleme: Die Kunden müssen ausbezahlt werden, falls eine Versicherung platzt. Die Käufer der Swaps dürfen von AIG weitere Sicherheiten verlangen, falls die versicherten Vermögenswerte an Wert verlieren. Und AIG muss für die Verträge in ihren eigenen Büchern gerade stehen, und zwar entsprechend dem Marktwert.
Gortons Modelle kalkulierten zwar die Wahrscheinlichkeit von Ausfällen, aber sie versuchten nicht, mögliche zukünftige Ausfälle, die AIGs Finanzen jetzt so tief getroffen haben, einzubeziehen. Aber das war beim AIG-Management bekannt.
Das nun überarbeitete Rettungsprogramm der US-Regierung zugunsten des einst weltgrössten Versicherungskonzerns umfasst insgesamt mehr als 150 Mrd Dollar. Vor ein paar Wochen diskutierte Gorton mit seinen Studenten, wie verwirrend doch die Finanzwelt geworden sei, und Gorton beklagte, dass Probleme in einem Sektor die Investoren dazu zwängen, alles zu hinterfragen: «Und es gibt anscheinend keinen fundamentalen Grund dafür.» Wall Street Journal Copyright © 2007 Dow Jones & Company, Inc. All Rights Reserved Weitere Nachrichten aus Wall Street Journal unter www.wsj.com
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