Kometenhafter Anstieg von Relief Therapeutics
Analyse | Ein Mittel des Pharmaunternehmens soll schwer kranken Coronapatienten helfen. Die Aktien kennen kein Halten mehr.
Seit Relief Therapeutics (RLF 0.58 41.46%) am Dienstag über gute erste Resultate von Versuchen mit ihrem Entzündungshemmer Aviptadil berichtet hat, ist der Aktienkurs des Pharmaunternehmens aus Genf förmlich explodiert. Es scheint kein Halten mehr zu geben. Am Freitagmorgen sind die Papiere auf 80 Rappen hochgeschossen, bevor sie wieder etwas zurückgekommen sind. Am Montag lag der Preis bei etwas mehr als 3 Rappen.
Anfang Jahr wurden die Titel noch regelmässig für 0,1 Rappen gehandelt. Der diesjährige Kursanstieg beträgt denn auch schwindelerregende 60?000%. Das Handelsvolumen hat sich in den letzten Tagen vervielfacht. An einigen Tagen haben mehr als 300 Mio. Aktien die Hand gewechselt, rund zehnmal mehr als an den meisten Tagen zuvor. Das Unternehmen ist nun an der SIX mit 1,3 Mrd. Fr. bewertet.
Auch bei Erektionsstörungen eingesetzt
Der Treiber für diesen kometenhaften Anstieg heisst Aviptadil. Es ist ein vasointestinales Peptid, also eine relativ kurze Aminosäurekette. Das Wort vasointestinal weist darauf hin, dass es zuerst im Magentrakt festgestellt wurde. Es kommt aber in diversen Regionen des Körpers vor, gehäuft auch in der Lunge. Aviptadil kann Prozesse des Immunsystems beeinflussen, wird unter anderem aber auch für Erektionsstörungen eingesetzt.
Wegen der entzündungshemmenden Eigenschaften hat Relief sein Produkt an Coronapatienten ausprobiert. Bei den schwersten Krankheitsfällen überschiesst das Immunsystem und greift die körpereigenen Zellen an. Dieser sogenannte Zytokinsturm endet meist tödlich. Die Sterblichkeit bei solchen mechanisch beatmeten Patienten liegt über 50%.
Zahlreiche Konzerne, darunter auch Roche (ROG 314.2 -0.27%) und Novartis (NOVN 75.5 -0.67%), haben Studien für eigene Entzündungshemmer eingeleitet, in der Hoffnung, sie könnten die überschiessende Immunreaktion in den Griff kriegen und so Leben retten. Bisher ohne Erfolg. Erst Ende Juli musste Roche bekannt geben, dass sein Actemra gescheitert ist. Es konnte weder den Zustand der Patienten verbessern, noch die Sterblichkeitsrate senken. Novartis erwartet Resultate aus Studien zu Jakafi, das sie zusammen mit Incyte vermarktet, gegen Ende des dritten Quartals.
Vielversprechende erste Daten
Erste Daten zum Einsatz von Reliefs Aviptadil sehen sehr vielversprechend aus. Demnach haben siebzehn von zwanzig schwerstkranke Coronapatienten überlebt. Das ist umso erstaunlicher, als es Patienten sind, die das Mittel unter dem «compassionate use program» erhalten haben. Das heisst, sie waren zu krank, um an einer regulären Studie teilzunehmen. Aviptadil durfte ihnen verabreicht werden, weil es keine für andere Krankheiten zugelassenen Mittel mehr gab, die hätten helfen können.
Allerdings ist bei solchen ersten Daten mit nur wenigen Patienten Vorsicht geboten. Ob Aviptadil tatsächlich einen Vorteil bietet, ist nicht gesichert. Resultate aus einer regulären Phase-II/III-Studie zu dem Mittel werden demnächst erwartet. Sie umfasst aber ebenfalls nur rund 80 Patienten.
Ein möglicher Glückstreffer
Gemäss der Medienmitteilung vom Dienstag könnte sich Aviptadil für die Behandlung von Coronapatienten als grosser Glücksfall erweisen. Gemäss brasilianischen Forschern besteht die Möglichkeit, dass das Peptid nicht nur entzündungshemmend wirkt, sondern auch die Vermehrung des Virus bremsen kann. Das wiederum könnte die relativ rasche Verbesserung des Zustands der mit Aviptadil behandelten Patienten erklären. Relief Therapeutics will diese Möglichkeit genauer erforschen.
Gestern hat die US-Gesundheitsbehörde ausserdem grünes Licht gegeben für eine weitere Studie mit inhalierbarem Aviptadil, was den Kurs zusätzlich beflügelt hat.
Spektakuläre Kehrtwende
Das Vorgängerunternehmen von Relief, Mondo Biotech, hat Aviptadil ab 2001 zunächst an Patienten mit Lungenversagen getestet, dann auch in anderen Indikationen. Die Entwicklung hat aber nie die letzte Phase erreicht. Vergangenes Jahr hat Relief erfolglos einen Käufer für den Wirkstoff gesucht.
Noch Ende April 2020 hat sie im Rahmen der Bilanz für das vergangene Jahr einen Abschreiber von 11 Mio. auf Aviptadil verbucht. Nur rund drei Monate später ist der abgeschriebene Wirkstoff nun zum Treiber einer Milliardenbewertung an der Börse geworden.
FuW hat vom Kauf der Aktien abgeraten, als sie rund 6 Rappen gekostet haben. Solange keine härteren Daten zu Aviptadil vorliegen, empfiehlt sie weiter Zurückhaltung. Spielernaturen könnten aber durchaus darauf setzen, dass die Wette aufgeht. Wenn Aviptadil tatsächlich eine signifikante antivirale Wirkung aufweist, Coronapatienten dadurch schneller genesen, und Leben gerettet werden, dann hätte die Aktie noch viel Raum nach oben.
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