Märkte ohne Margen
Von Hermann Simon
Viele Zukunftsbranchen leiden unter einem dauernden Preiskrieg. In Wachstumsmärkten wie Internet, Fluglinien oder Telekommunikation gehen die Gewinne daher zwangsläufig gegen null.
Bei einem zufälligen Treffen im Flughafen erzählte mir der Ex-Vorstandschef eines großen Mobilfunkanbieters, kürzlich habe er eine meiner früheren Kolumnen mit dem Titel "Leerer Kern" wieder gelesen. Der Essay war im Juli 1995 im manager magazin erschienen. "Es kam noch schlimmer, als Sie es damals voraussagten", war sein Kommentar.
Hermann Simon ist Chairman der Unternehmensberatung Simon, Kucher & Partners Um was geht es? Um Märkte, die einen so genannten leeren Kern besitzen. Als Kern eines Marktes bezeichnet die Wirtschaftstheorie eine Wettbewerbskonstellation, bei der alle Konkurrenten profitabel wirtschaften können. Ist der Kern "leer", so lässt sich in einem Markt insgesamt kein Geld verdienen. Das schließt nicht aus, dass einzelne Unternehmen Gewinne machen.
Damals wagte ich die Behauptung, dass viele der modernen Märkte böse Überraschungen im Sinne eines leeren Kerns beinhalten. Telekommunikation, Teile des Fernsehmarktes, Multimedia, Tourismus, Luftfahrt, Autovermietung oder die Computerindustrie gehörten dazu. Bezeichnenderweise kam der Begriff Internet in meiner seinerzeitigen Kolumne nicht vor, die Internetära dämmerte gerade erst am Horizont.
Wie stellt sich die Situation heute dar? Praktisch alle großen amerikanischen Fluggesellschaften und einige europäische (Swissair, Sabena) schlitterten in die Insolvenz oder wurden geschluckt. Telekom-Giganten wie Worldcom oder AT&T - das gerade durch die Übernahme von Bell South wieder zu alter Glorie aufsteigen will - sind verschwunden oder auf Bruchteile ihrer einstigen Größe geschrumpft. Drohen France Télécom , Telecom Italia oder der Deutschen Telekom ähnliche Schicksale?
Die verblichenen Internetsterne sind Legion. Wie nervös die Börse mit einem Superperformer umspringt, zeigt der Crash des Google-Kurses seit Anfang dieses Jahres. Allein am 1. Februar 2006 brach der Börsenwert des Internetstars um mehr als neun Milliarden Dollar ein, genau einen Monat später um gut acht Milliarden Dollar. Nun will Google gegen Apple auch ins Musikgeschäft einsteigen. Vorsicht, Apple! Leerer Kern droht!
Branchen und Geschäfte werden regelmäßig mit euphorischen Erwartungen begrüßt. Die Mobilkommunikation ist ein Musterbeispiel. Als Mannesmann seinerzeit die erste private Mobilfunklizenz erhielt, wurde überschwänglich "von einer Genehmigung zum Gelddrucken" gesprochen. Mittlerweile sieht die Welt sehr viel nüchterner aus. Die Mobilfunker haben inzwischen zweistellige Milliardenbeträge abschreiben müssen, und zwischen den Anbietern ist ein gnadenloser Wettbewerb um jeden einzelnen Kunden entbrannt.
Viele "Märkte der Zukunft" zeichnen sich durch unschöne Besonderheiten aus. Das primäre Problem besteht nicht darin, dass sich die anfänglichen Wachstumserwartungen hinsichtlich der Nachfrage nicht erfüllen. Denn weit gravierender sind die regelmäßigen Fehleinschätzungen im Hinblick auf den Wettbewerb und seine Intensität.
Es ist ja gerade nicht so, dass der Flugreisenmarkt nicht wächst. Das Gegenteil ist der Fall. Jedoch treten immer aggressivere Wettbewerber auf den Markt, und es tobt ein ununterbrochener Preiskrieg. Das Angebot wächst ständig schneller als die Nachfrage. Selbst die Besten erreichen allenfalls marginale Profite.
Die wichtigste Triebkraft für diese Entwicklung ist die schnelle Commoditisierung neuer Produkte und Dienstleistungen. Für viele Bereiche gibt es keinen effektiven Patentschutz. So halten die meisten Kunden heute Personal Computer, Mobiltelefone, Airlines, Autovermieter, Internetangebote, Kreditkarten oder Hotels für austauschbar.
Sehr niedrige Grenzkosten sind eine weitere Ursache für einen leeren Kern. Wenn die Kapazitäten einmal aufgebaut sind, liegen die Grenzkosten nahe null. Die zusätzlichen Kosten für ein Telefonat sind vernachlässigbar. Umgekehrt bedeutet jede ungenutzte Minute im Telefonnetz, jeder unbesetzte Flugzeugsitz unwiederbringlich verlorenes Geld. Ähnliches gilt für einen zusätzlichen Internetaufruf, ein Hotelbett, eine Ferienwoche, eine Banktransaktion, eine Softwareeinheit.
Kernbohrung: Ist der Kern "leer", so lässt sich in einem Markt insgesamt kein Geld verdienen. Das schließt nicht aus, dass einzelne Unternehmen Gewinne machen. Diese Kostensituation führt zwangsläufig dazu, dass Wettbewerber mit unausgelasteten Kapazitäten die Preise senken. Das treibt aber selten die Gesamtnachfrage nach oben, sondern setzt nur die Preisspirale nach unten in Gang und reißt so bis auf wenige extrem kostengünstige Anbieter alle in die Verlustzone. Versuche, aus diesem Schlamassel herauszukommen, scheitern, da stets ein Wettbewerber überschüssige Kapazitäten hat, die er per Niedrigpreis am Markt abkippt. Auf die Telekommunikation und das Internet bezogen, meint Professor Nicholas Negroponte, Chef des Media-Labors am Massachusetts Institute of Technology, dass die Verhältnisse dort "noch schlimmer sind als bei den Airlines mit ihren Preiskriegen". Jeder kämpft gegen jeden: Telefongesellschaften, Kabelnetzbetreiber, Internetfirmen, Stadtwerke, Satellitensysteme.
Auch die Automatisierung der Kundenbeziehung höhlt den Kern aus. Wenn die Bankbeziehung oder die Reisebuchung nur noch über den Bildschirm läuft, entfällt die persönliche Beziehung als Treue bildender Faktor. Dem Kunden ist es egal, bei welchem Bildschirm er kauft, er entscheidet nur noch nach dem Preis. Wer hat schon eine persönliche Beziehung zur Homepage seiner Bank? Wer mit seinem Diensteanbieter ausschließlich per Callcenter oder Internet verkehrt, wechselt leichter als jemand, der seinen Betreuer persönlich kennt. Natürlich ist die persönliche Betreuung teuer, doch ihr Kundenbindungspotenzial darf man nicht unterschätzen. Je mehr die Kundenbeziehung automatisiert wird, desto größer ist die Gefahr beliebiger Austauschbarkeit.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Überlegungen?
Bei der Beurteilung neuer Märkte sollte man sich vor Euphorie hüten, größte Nüchternheit ist angezeigt. Viele "Märkte der Zukunft" werden Märkte ohne Margen bleiben und das Gegenteil des erwarteten Paradieses bringen. Prüfen Sie deshalb Engagements in solchen Märkten äußerst kritisch. Droht ein leerer Kern, so lassen Sie die Finger davon. Angesichts der schnellen Commoditisierung neuer Märkte ist es wichtig, Marktpositionen früh zu besetzen. Wenn nachziehende Wettbewerber keine Vorteile bieten können, dann bleiben die Kunden beim Pionier. Viele Firmen sind nicht deshalb Marktführer, weil sie besser sind, sondern weil sie einfach früher da waren und die Positionen besetzt halten. Je größer die Gefahr der Commoditisierung ist, desto wichtiger sind erstens die Kosten und ist zweitens die Nutzung noch verbleibender Differenzierungspotenziale. Selbst unter den Airlines gibt es profitable Firmen wie etwa Southwest Airlines oder Ryanair . In Märkten ohne Margen sind solche Firmen jedoch stets auf spezielle Marktsegmente fokussiert oder fahren extrem kostengünstige Prozesse. Wenn irgendwie möglich, sollten Sie versuchen, in der Beziehung zum Kunden eine persönliche Komponente zu erhalten. Hierzu gibt es viele Möglichkeiten. Durch Kundenkarten oder -clubs werden aus anonymen bekannte Kunden. Die moderne Informationstechnologie gestattet die individuelle Ansprache. Durch Zuordnung von Kunden zu Mitarbeitern lässt sich der Anonymisierung erfolgreich entgegenarbeiten. Auch die Preispolitik sollte man gegen die Commoditisierung einsetzen. Die Bahncard liefert ein Beispiel. Wer die Ausgabe für die Bahncard einmal getätigt hat, beurteilt die Alternative Bahn versus Auto anders. Treueboni, Preisbündelung oder Mehrpersonenrabatte haben ähnliche Wirkungen. Nicht zuletzt muss man prüfen, inwieweit Zusatzservices geeignet sind, die Commoditisierung zu bekämpfen. Hier liegt großes Potenzial; es sei jedoch vor trügerischen Hoffnungen gewarnt. Die Bereitschaft des Kunden, Zusatzservices im Preis zu honorieren, hält sich in Grenzen.
In den Märkten der Zukunft weht mehr denn je ein scharfer Wind der Commoditisierung. Paradiese lässt der Sturm nicht entstehen, allenfalls Oasen, denn er fegt die Profite weg, und zurück bleibt ein leerer Kern. Nur wer früh seine Bastionen baut und seine Wettbewerbswaffen zielgenau einsetzt, kann sich gegen den Trend stemmen.
© manager-magazin.de 2006
|