Der Junge sieht aus dem Fenster im Erdgeschoß raus auf den Innenhof vom Plattenbau in Berlin-Hellersdorf, schmal ist sein Zimmer, nur ein Schlauch, mit Tesa reparierte Tapete, Bett, Schrank, Tisch. Seine kleine Welt.
Die Welt von Markus. 10 Jahre. 4. Klasse. Vater arbeitslos.
Und keine Chance, daß sich das ändern wird. Eins von 5,2 Millionen Schicksalen in Deutschland 2005.
Hier im Plattenbauviertel ist fast in jeder zweiten Familie Vater oder Mutter arbeitslos. In Markus? Haus betrifft die Jobkrise fünf von zwölf Familien. ?Wenn Papa Arbeit hätte?, sagt Markus, ?das wäre schön. Weil ...?
Markus zögert, schaut zum Vater auf und sucht nach den richtigen Worten:
? ...weil, Papa wäre dann doch glücklicher, und wenn Papa glücklich ist, dann bin ich es auch, und wir hätten dann ja auch mehr Geld. Dann könnten wir vielleicht auch mal in den Ferien wegfahren oder so.?
Nachmittags sind die beiden meistens allein in der Dreizimmerwohnung im Plattenbau von Hellersdorf. Markus? Schwester ist zwölf, sie trifft sich oft mit anderen Mädchen. Mutter Heike (37) hat Arbeit als Altenpflegerin.
?Warum will dich keiner??: Das ist oft ein Thema zwischen Michael K. (48) und seinem Sohn.
Markus fragt dann: ?Warum gehen wir nicht woanders hin, wo es Arbeit gibt??
Der Vater: ?Ich weiß doch nicht wohin.?
Michael K. kommt aus Pritzwalk. Sein Vater war Eisenbahner. Er starb früh an Asthma. Die Mutter, eine Stenotypistin, zog die fünf Kinder alleine auf. Man kriegt im Leben nur was gegen Leistung, brachte sie ihnen bei. ?Wenn du ein Fahrrad willst, mußt du was dafür tun.? Michael hat sich immer daran gehalten. Er sei zielstrebig und lasse sich nicht hängen, sagt er.
| Ein Foto, das Michael K. (48) sich oft anschaut: Er als Konditor in einer Bäckerei in der Ex-DDR
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Er geht auf die Polytechnische Oberschule, macht 1972 nach der 10. Klasse den Abschluß: Geschichte 2, Deutsch 1, Mathe 3, Physik 2. Er lernt Konditor. Warum? ?Das Wirtschaften, das lag mir.? Und Backen auch.
Die dreijährige Lehre in Pritzwalk gefällt ihm. ?Wir waren so geborgen als Lehrlinge. Der Meister ist sogar mit mir in Urlaub gefahren.? Er bekommt anfangs 85 Ostmark Lehrgeld, später 120 Mark. Er lernt backen, Marzipan herstellen, Schokolade kochen. Aber er will raus aus Pritzwalk.
Rostock ist die nächste große Stadt. Dort bekommt er Arbeit als Konditorgeselle in einer Bäckerei. Es geht aufwärts, 850 Mark brutto, er ist fleißig, tüchtig und bei den Kollegen beliebt. Dann 18 Monate Wehrdienst in der Volksarmee.
1979. Michael geht nach Pritzwalk zurück. Dort sucht die ?Großbäckerei Pritzwalk? Leute. Er bleibt dort bis 1989, backt Sahneschnitten, Obstkuchen, Hefebrötchen.
Als die Mauer fällt, wollen alle rüber, er auch. Zunächst landet er in Auffanglagern (Hamburg, Cuxhaven), hört sich aber sofort nach einem Job um. Und wieder findet er einen: Bei Hamburg in der Großbäckerei Reinbeck, wo er jetzt schon 1400 Mark Westgeld bekommt und eine kleine Betriebswohnung mit einem Kollegen teilen darf.
Aber 1991 gibt es Streit in der Firma. Michael hat inzwischen seine spätere Frau kennengelernt, eine Maschinistin, aus dem Osten so wie er. ?Es war gleich Liebe.? Sie und ihre Freundin ziehen zu den beiden Männern in die Betriebswohnung, aber das kommt in der Firma nicht gut an: ?Dann kannst du gleich ganz gehen.?
Noch ist keine Not. Die Schokoladenfabrik ?Trumpf? sucht Leute. 1500 Mark netto gibt es für den Job. Aber es ist nur Arbeit auf Zeit. Ein Saisonjob. Ein Jahr später meldet Michael K. sich das erste Mal arbeitslos.
13 Jahre ist das her. Das erste Kind unterwegs, kein Job in Sicht. Sie gehen nach Berlin, hoffen dort auf eine neue Chance: Berlin boomt ja. Aber nun kommen keine Angebote mehr.
Einmal hätte Michael K. eine kleine Tchibo-Filiale mit Bäckerei übernehmen können, aber dafür wären 5000 Mark Kapital notwendig, und das ist ihm zu gewagt. Er verzichtet.
Einmal bekommt er noch Arbeit als Küchenhelfer, ein Ein-Jahres-Vertrag. Der läuft aus und wird nicht verlängert.
Einmal hat ihn das Arbeitsamt umgeschult zum Altenpflegehelfer. Aber er glaubt, das war nur für die Statistik: ?Altenpflegehelfer will gar keiner. Da muß man richtig Examen haben, und ich hab? keins.?
Michael K. hat über 100 Firmen selber aufgesucht und sich vorgestellt. Er hat Stunden und Tage vor dem Computer im Arbeitsamt gesessen. Er hat über 30 Vorstellungsgespräche. Erfolgreich ist keines: Zu alt, wir suchen eigentlich gar nicht, wir suchen eine Frau ...
?Mein Arbeitsvermittler?, sagt er, ?hat mir keine einzige Stelle angeboten. Dort heißt es immer nur: ,Kümmern Sie sich selbst.??
Michael K. rechnet vor: 850 Euro netto bringt seine Frau heim, die Altenpflegerin ist, 290 Euro überweist Hartz IV, 2x 154 Euro beträgt das Kindergeld. ?500 Euro Miete, 65 die Fahrkarte für meine Frau, 25 Euro GEZ, 35 Euro Strom, 85 Euro Telefon, 40 Euro ein alter Kredit, 2x 10 Euro Taschengeld, 400 Euro für Essen und all das andere, Klassenreisen, Klamotten, Kino.? Zum Arbeitsamt geht er nicht mehr. ?Dabei würde ich alles machen. Ich würde mich zerreißen für einen Job.?
Neulich gab es eine Debatte im Fernsehen über Arbeitslose. Der Vater hat sie sich angeschaut. Er hat geweint. Da war Markus schon im Bett. Ein Zehnjähriger, der es noch nie bewußt erlebt hat, wie es ist, wenn Papa arbeiten geht.