Das totale Knipsen
Die digitale Kameratechnik entfesselt den Probiertrieb der Amateurfotografen. Im Internet ist zu sehen, wohin das führt: Abermillionen von Aufnahmen landen dort bei riesigen Fotoportalen zur Volksabstimmung.
Wie sieht wohl die Hölle aus, in der eines Tages die Diavorführer gesotten werden? Keine Frage: Das muss ein Ort sein, an dem die Nervensägen unter ihresgleichen sind. Dort bekommen sie unaufhörlich anderer Leute Kinder, Katzen, Kokolores gezeigt, und die Teufel schleppen immer neue Fotografien herbei.
Es gibt diese Hölle bereits. Seltsamerweise verzeichnet sie großen Andrang. Die Verdammten ziehen in Scharen freiwillig hin: Im Internet entstehen gerade Fotoportale von gewaltigen Ausmaßen. Jeder Fotofreund darf seine Aufnahmen dort zur Begutachtung auslegen. Die anderen sehen sich alles unermüdlich an und schreiben dann darunter, was sie davon halten.
Beim deutschen Dienst fotocommunity.de sind schon fast 400 000 Fotos rezensiert worden - sortiert nach Fächern wie "Industrie nachts" (640 Exemplare), "China" (627) oder auch "Akt missglückt" (57). Mehr als zweieinhalb Millionen Kommentare kamen bislang zu Stande.
Der Bonner Freizeitfotograf Andreas Meyer hat das Forum aufgebaut. Inzwischen betreibt er es im Hauptberuf. Viele Nutzer bezahlen ihn für das Vergnügen des Zugangs; dann dürfen sie jede Woche zehn Bilder (statt nur eines) zum Beurteilen hochladen.
Ein halbwegs gelungenes Foto vom Mops, wie er gerade den Flokati zerfleischt, bringt hier leicht hundert Kommentare oder mehr ein - für Amateure, die sonst kaum Beachtung finden, ein rauschhaftes Erlebnis. Nicht wenige Teilnehmer sagen, dieses Gemeinwesen habe sie erst so recht fürs Fotografieren entflammt.
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Ein digitales Foto ist immer ein Experiment. Das ist seine Natur. Man kann es jederzeit löschen und einen neuen Versuch wagen; die Zahl ist unbegrenzt. Auf einem handelsüblichen Speicherkärtchen finden heute bereits Aberhunderte Fotos Platz. Die eifrigsten Pioniere ziehen mit speziellen Speicherplatten in den Urlaub, die zum Beispiel "Image Tank" heißen und bis zu 40 Gigabyte an Daten fassen. Das reicht für fünf Wochen Serienknipsen mit je 1000 Aufnahmen am Tag.
Wo ehedem jeder Schuss abgezählt werden musste, weil der Film rasch zu Ende ging, können nun entfesselte Fotografen den Strand von Antalya, das Betriebsfest zu Hause und die ersten Laufversuche der Tochter unter Dauerfeuer nehmen. Die Kamera präsentiert sofort auf ihrem Monitor die Beute - ein wahrhaft magischer Reiz. Der Amateur geht deshalb nun spaßeshalber auf alles los, was nicht schnell genug weg ist: das nichtsnutzige Grasbüschel in der Pflasterritze, den lustigen Dicken an der Tankstelle. Oder er kämpft um das endgültige Bild von der Achterbahn, wo die Passagiere gerade kopfüber in den Himmel rasen - und wenn er hundertmal Anlauf nehmen muss. Kostet ja nichts.
So löst sich nun das Fotografieren vom angestammten Zweck: dem albumfähigen Papierbild, dessen Zahl begrenzt war. Die Digitaltechnik entfesselt den Probiertrieb auf bislang ungekannte Weise: Ein Allerweltshobby wird radikalisiert.
Bei den Pionieren schwankt der Wagemut je nach Temperament: Die Furchtsameren halten sich noch an die Ästhetik der angeschnittenen Wendeltreppen und der einsam aufragenden Bäume - wenn auch schon tapfer umgefärbt am Computer. Die anderen gehen jubelnd verloren zwischen tränenden Pferdeaugen von ganz nah und dem fabelhaften Achselpelz des Ehemanns, wo aus dem Gestrüpp noch ein trautes Schweißperlchen blinkt.
So treibt es immer mehr Menschen in die Weiten der Zweckfreiheit. Zurück wollen sie alle nicht mehr. Sie genießen die kleinen Wagnisse (unterm Vorbehalt der Löschtaste); und sie erproben das wilde Leben von Ästheten. Alles ist hier möglich, leider auch nichts gewiss: Taugt es denn was, das Bild vom Achselpelz? Oder ist es bloß peinlich?
Es gibt nur einen Weg für die Unerfahrenen, Sicherheit zu erlangen: Das Werk muss unter die Leute, am besten zur Volksabstimmung durch Gleichgesinnte. Das digitale Foto drängt ja ohnehin in die Welt hinaus; es verschickt sich so leicht.
Kulturforscher, die sich für das Kunstwollen und die verborgenen Passionen der Bevölkerung interessieren, können nun leichte Beute machen. Sie müssen sich nur an den Portalen der Online-Gemeinschaften auf die Lauer legen. Dort sind tagein, tagaus die neuen Abenteurer zu beobachten, wie sie, einer nach dem anderen, blinzelnd ins Licht der Öffentlichkeit treten.
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Der Empfang in der Gemeinschaft ist meist überwältigend. Neue Bilder werden dort gern mit Jubelkommentaren gefeiert: Superklasse! Wunderschön! Wahnsinn! Selbst die tausendste rote Blüte, Kapuzinerkresse diesmal, geht nicht leer aus: "Wie machst du bloß immer so tolle Fotos!?!? Ich bin total begeistert ..." Wer etwas mehr wagt, womöglich in Richtung Objektkunst, hat ohnehin schon gewonnen: Der Korken am Strand vor verschwommen heranrollenden Wellen bekommt gleich mehrmals das Prädikat "genial".
Die Pioniere spenden Anfeuerung bis zur Selbstaufgabe. Erstens dringt man hier schließlich auf neuen Grund vor; da wird niemand zurückgelassen. Zweitens wollen die Kommentatoren alsbald auch mal selber gelobt werden: Ein Klick auf den Namen des Absenders, und man springt direkt zu dessen eigener Fotosammlung. Jeder Kommentar ist auch ein Köder, der ausgeworfen wird, um Gegenlob zu angeln.
Das Lob allein ist es nicht. So mancher harte Mann dachte anfangs, es genüge, im Vorbeigehen das geile Motorrad in der Garage zu blitzen. Aber es kommt der Tag, da geht er zu Boden und probiert es demütig mit den Staubgefäßen von Löwenmäulchen im Gegenlicht. Keiner kommt umhin, zartsinnige Fragen der Ausleuchtung und des Bildaufbaus zu studieren - schon gar nicht, wenn er in die Galerie der besten Fotos gewählt werden will.
Es gibt in diesen Fotoportalen eine Menge Leute, die sich nach Kräften hervortun. Sie dunkeln die Küche ab und leuchten den Toaster schräg mit Baustrahlern an, bis der seine Schlitze zu fletschen scheint wie eine Fressmaschine. Sie klettern nachts auf stillgelegte Hochöfen um der Pracht eines erleuchteten Hüttenwerks willen. Oder sie rücken mit Makrolinsen zum Froschteich aus, um die Hautunreinheiten der Knoblauchkröte zu dokumentieren - und mit Glück werden sie Zeuge, wie eine Mücke das arme Tier in den Kopf zu stechen trachtet.
Die neuen Kamera-Handys sind auch bei Scherzbolden und Spannern gefragt, die in der U-Bahn damit unter fremde Röcke zielen.
So geht es zu, wo Zehntausende auf einem Haufen sich plagen, der Welt noch etwas Ungesehenes zu entringen: Der Durchschnitt hebt sich wie von selber. Wer durch die Online-Alben der Fotografen blättert von den ersten zu den neuesten Werken, erlebt hie und da schon kleine Bildungsromane in Bildern. Zu sehen ist, wie durch Konkurrenz allmählich Raffinesse entsteht.
Man muss das nicht so weit treiben wie der amerikanische Dienst photosig.com (660 000 rezensierte Fotos): Die Teilnehmer dort sind gehalten, jedem Foto eine Note zu geben und jeder Bildkritik obendrein. Ein ausgefeiltes Punktesystem führt dort zu regelrechten Wettkämpfen um die Ränge der führenden Lichtbildner und Kritiker. Häufig kommt es zu Entgleisungen. Marodierende Teilnehmer tauchen in anderen Fotoforen auf und betteln dort um gute Bewertungen für ihre Bilder.
Beim deutschen Dienst fotocom munity.de geht es nicht so kämpferisch zu. Hier wetteifern die Mitglieder eher durch direkten Vergleich: Wer einen neuen Wasserfall anschleppt, nimmt es auf mit 517 vorhandenen Wasserfällen. Auf die neue Treppenstudie warten 490 Vorgänger - und die Leute lieben es offenbar, sich mit Gleichgesinnten zu messen. Mit der Zeit bilden sich immer mehr Untergruppen mit spezialisierten Vorlieben, berichtet Andreas Meyer, der Gründer des Forums. Die "Rostfraktion" nimmt sich die malerisch zerfallende Industriekultur vor. Andere ergeben sich für eine Weile ganz dem Lockreiz der Spinnen (746 Fotos). Je beschränkter das Feld, desto gerader der Weg zur Perfektion. Es gibt sogar eine Kleingruppe, die sich in der Pilz- und Flechtenfotografie (442 Fotos) vervollkommnet.
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Dumm ist nur, dass auch im besten Flechtenfoto ein noch besseres verborgen liegt. Digitale Bilder sind niemals fertig. Am Bildschirm lassen sich umstandslos die Grüntöne sättigen und finstere Winkel aufhellen, von den rabiateren Mitteln des Computers zu schweigen. Zum Einsatz kommen sie alle. Die Diskussionsforen der Fotoportale sind voll von Fachsimpeleien über Gaußsche Unschärfe, Tonwertspreizung, Effektfilter aller Art.
Das herkömmliche Papierbild ist unabänderlich wie eine Quittung. Man bekommt es ausgehändigt und ist fertig. Die digitale Fotodatei dagegen ist nur das Ausgangsbild für potenziell endlose Reihen von Verwandlungen, Retuschen und Tricksereien. Wer nach etlichem Hin und Her sein Werk abspeichert, hat davon wieder nur eine Momentaufnahme fixiert - ein Foto von einem Foto.
Weil in der Raserei des Knipsens dafür zu selten Zeit bleibt, versammeln sich auf jeder Festplatte bald Tausende unerlöster Bilder, die stumm die Verwirklichung ihres Potenzials einklagen. Bei veröffentlichten Fotos hilft manchmal die Online-Gemeinschaft nach: Katzenhinterläufe etwa, die unbefugt ins Bild ragen, gelten als Liederlichkeit. Dann kommt es vor, dass ein freundlicher Mensch das Foto auf seinen Rechner lädt, ein wenig daran herumzaubert und das Ergebnis wieder ins Forum zurückstellt: Bitte sehr, so ginge das auch. Eine gewisse Grundreinigung der Bildaussage wird ohnehin erwartet: Details retuschiert, Kontrast nachgeschärft, Farben zum Leuchten gebracht. Die Fotos tendieren deshalb schon stark ins Überwirkliche.
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So füllt sich das Internet rapide mit Bildermassen. Es gibt Firmen, die einfach nur unbegrenzten Speicherplatz bieten - darunter der US-Dienst Snapfish.com, der bereits mehr als 100 Millionen Exponate versammelt hat (und von Papierabzügen lebt). Die Kunden entscheiden jeweils, wer Zutritt zu ihren Alben hat - Freunde, Verwandte, Kollegen. Hier wandert hin, was früher ins Familienalbum kam. Die Agentur Nielsen NetRatings ermittelte: Snapfish ist derzeit das am schnellsten wachsende Internet-Angebot überhaupt.
Auf der anderen Seite blühen neuerdings wilde Fotoforen für Knipser, die dort öffentlich eine Art Bildertagebuch führen. Zehntausende Menschen aus allen Kontinenten beliefern zum Beispiel die Zentrale fotolog.net mit Dokumenten ihres Tageslaufs, und nebenher plaudern sie über die Sammelsurien: halb abgegessene Frühstücksteller aus Moskau, ein Kaninchen aus Hokkaido, das Pfannkuchen und Teetassen auf dem Kopf balanciert - oder auch private Bilder vom großen Stromausfall neulich in den USA, die noch in der Nacht der Katastrophe ihren Weg ins Internet fanden.
Viele dieser visuellen Notizen werden bereits mit Mobiltelefonen geknipst und gleich von unterwegs ins Netz gefunkt. Die neuen Kamera-Handys kommen überraschend gut an, nicht nur bei den Exhibitionisten des Alltags. Die Geräte - klein, unauffällig, stets zur Hand - sind auch bei Scherzbolden und Spannern gefragt, die in der U-Bahn damit unter fremde Röcke zielen.
Wer hätte vor einem Jahr noch dem fotografierenden Telefon eine große Zukunft geweissagt? Heute schätzt die Marktforschungsfirma IDC, dass schon 2005 mehr Foto-Handys verkauft werden als normale Digitalkameras und herkömmliche Fotoapparate zusammengenommen.
Die Bilder werden also immer mobiler. Es drängt sie mit Macht auf Wanderschaft, heraus aus den Fotoschachteln und Albumsgrüften. Es ist, als ob sie nur darauf gewartet hätten. Hat je wer ein Foto einzig für sich allein gemacht? Das neue Bildertreiben offenbart das Gegenteil: Wer auf den Auslöser drückt, setzt eine Botschaft in die Welt - und nun lässt sie sich überhaupt nicht mehr zurückhalten.
MANFRED DWORSCHAK
aus "Der Spiegel", 35/2003
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