Jetzt kommt es knüppeldick für den Kanzler - die Parade der schlechten Zahlen. Das Defizit der Krankenkassen machte den Auftakt, es folgen die Arbeitslosenzahlen und das steigende Staatsdefizit. Und mittendrin muss sich Schröder im TV-Duell mit Stoiber messen Von Alexander von Gersdorff
Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass die Horrorzahlen über das Halbjahresdefizit der Krankenkassen schon seit Tagen in den Medien kursierten. Von einem Zwei-Milliarden-Euro-Loch war da die Rede. Damit waren besorgte Mitbürgerinnen und Mitbürger auf das Schlimmste vorbereitet.
Jetzt aber sieht alles noch düsterer aus. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) musste gestern bekannt geben, dass die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von Januar bis Ende Juni 2,4 Milliarden Euro über den Beitragseinnahmen liegen.
Die Woche der Wahrheiten, von der Gesundheit über die Arbeitslosigkeit bis zur Haushaltslage, begann für die rot-grüne Bundesregierung und ihren Kanzler damit äußerst unangenehm. Denn die Situation riecht förmlich nach einer gescheiterten Kostendämpfungspolitik im Gesundheitswesen und einer neuen Beitragserhöhungsrunde, um das Kassendefizit wieder auszugleichen. Bereits im vergangenen Jahr war der Beitragssatz von 13,5 auf 14 Prozent vom Bruttolohn gesprungen.
Auch wenn das Gesundheitsministerium derzeit noch, hyperkorrekt, auf dem günstiger erscheinenden "Tankstellenpreis" von 13,99 Prozent beharrt - Gerhard Schröder, der derzeit auf Wahlplakaten und in Fernsehspots den soliden Wirtschaftskanzler gibt, ist im Begriff, bei den Sozialabgaben das Gegenteil von dem zu erreichen, was er versprochen hat: Erhöhung statt Senkung. Kaum eine Wahlkampfkundgebung, bei der Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber das nicht erwähnen würde.
Zwar ist das mit den ab 2003 weiter steigenden Beiträgen noch gar nicht so sicher. Die Kassen beteuern seit Tagen, bis zum Jahresende sei das Defizit so gut wie weg. Steigende Löhne, das Weihnachtsgeld und Rückzahlungen aus dem vorsorglich gefüllten Finanzausgleichstopf der Kassen machen es möglich.
Aber es rächt sich nun, dass sich Schröder für Gesundheitspolitik, geschweige denn die Durchsetzung einer echten Reform, nie interessiert hat. Es gehörte nie zu den rot-grünen Kernprojekten wie Atomausstieg, Homo-Ehe oder Zuwanderung. Erst ließ er die Grüne Andrea Fischer vor sich hinwerkeln, bis diese, zermürbt vom Kleinkrieg zwischen Ärzten, Kassen und Krankenhäusern um Sparbestrebungen bei Arzneimitteln und Behandlungskosten, aufgab.
In aller Eile schickte der Kanzler die sich um die Rentenreform verdient gemachte Aachener SPD-Sozialpolitikerin Ulla Schmidt in die zweite Halbzeit. Diese hat zwar die Kassen hinter sich gebracht, dafür die Ärzte und Pharmaindustrie umso mehr gegen sich aufgebracht, wie sich gestern wieder zeigte. "Arzneimittel taugen nicht als Sündenbock für Finanzprobleme", schmetterte die Pharmaindustrie der Ministerin entgegen, weil diese die steigenden Ausgaben für Medikamente kritisiert hatte.
Es ist Ulla Schmidts Unglück, dass sie kurz vor der Bundestagswahl ein Defizit bekannt geben muss, das - wie die Kassen behaupten - bis zum Jahresende in den Griff zu bekommen ist. Die entscheidende Frage lautet daher nicht, was aus den roten Zahlen wird, sondern ob es der Union gelingt, diese so auszuschlachten, dass der SPD gesundheitspolitisch nichts mehr zugetraut wird - und ob der zuletzt etwas ins Schlingern geratene Umfragehöhenflug der CDU/CSU einen neuen Schub bekommt.
Den Versuch startete gestern der Sozialexperte im Kompetenzteam von Edmund Stoiber - CSU-Parteifreund Horst Seehofer. Der Gesundheitsminister von 1992 bis 1998, im Falle eines Wahlsiegs wieder für diesen Posten vorgesehen, griff Ulla Schmidt in einer eilends im Reichstag anberaumten Pressekonferenz an und bezichtigte sie der "bewussten Falschaussage" bei ihrer Vorhersage der Beitragsstabilität. Er selbst prognostizierte einen Anstieg auf "14,2 bis 14,5 Prozent" für 2003 und stellte - mit dem Unterton der Schuldlosigkeit - vorsichtshalber klar, er könne, falls gewählt, daran nichts mehr ändern.
Aber auch Seehofer ist vorbelastet, hatte er doch Kosten- und Beitragssteigerungen in seiner Amtszeit nicht aufhalten können. Nach seiner lebensbedrohlichen Krankheit fiel er vor allem durch den Satz auf, er habe daraus gelernt, dass man nicht Ärzte und Pflegepersonal, sondern das Gesundheitssystem reformieren müsse - eine herbe Selbstkritik.
Die Reformvorschläge der großen Parteien fallen aber allesamt eher moderat aus. Von "unumgänglichen, schmerzhaften Einschnitten" ins Portemonnaie der Patienten sprechen offen nur Ärzteverbände, die Aussagen der Parteien zur Gesundheitspolitik sind eher schwammig, im Wahlkampf spielen sie kaum eine Rolle.
Ulla Schmidt fiel zuletzt durch die Ankündigung auf, im Falle der Wiederwahl den Wechsel zu privaten Krankenkassen zu erschweren, damit die Einnahmebasis der gesetzlichen Kassen nicht geschwächt wird. Die Folge war das Gegenteil: Obwohl politisch noch nichts geschehen ist, sind rund 200 000 Versicherte in eine private Kasse gewechselt.
Zwar stehen die gesetzlichen Kassen Rot-Grün nach wie vor näher als Seehofer, denn Ulla Schmidt will die von dem CSU-Politiker angekündigte Trennung in Grund- und Wahlleistungen verhindern. Die Kassen sehen darin einen möglichen Einnahme- und Machtverlust und unterstützen in diesem Punkt trotz der sonst geübten Neutralität die Ministerin lautstark.
Dennoch kann Schröder auf dem Kriegsschauplatz Gesundheitspolitik bis zur Wahl nicht mehr punkten. Dafür ist in vier Jahren zu wenig geschehen. Und 2,4 Milliarden Euro Kassendefizit zum Halbjahr sind 2,4 Milliarden zu viel, egal, was daraus nach der Wahl noch wird.
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