Vier Jahre nach dem Pisa-Schock feiern die Kultusminister erste Reformerfolge. Doch das Gefälle zwischen den Ländern ist riesig, vor allem sozial schwache Schüler bleiben auf der Strecke.
Eigentlich hatte Oleg alle Chancen, am deutschen Schulsystem zu scheitern. Vor acht Monaten kam der Zwölfjährige mit seinen Eltern aus der Ukraine nach Hamburg; die Aussiedlerfamilie sprach kaum Deutsch. Eine Wohnung fanden Olegs Eltern in der Neubausiedlung Neuallermöhe-West, in der Hansestadt berüchtigt als das "Russen-Ghetto".
Doch der kleine Junge, der seinen strengen Seitenscheitel mit viel Gel in Schuss hält, macht inzwischen große Fortschritte. "Er spricht überraschend gut Deutsch, strengt sich an und hat schon Freunde gefunden", sagt Christine Pinck, Schulleiterin am Gymnasium Allermöhe.
Einmal in der Woche büffelt Oleg Deutsch mit Irina, 17, aus der 12. Klasse. Irina kommt aus Kasachstan und kennt die Probleme der Neuankömmlinge. "Es macht Spaß, ihnen zu helfen", sagt sie.
Nachmittags können Oleg, Irina und ihre Mitschüler aus 25 Kursen wählen, von der Fotogruppe bis zur Schach-AG: Das Gymnasium Allermöhe ist eine Ganztagsschule. In der 6. Klasse wird Oleg im Musikunterricht Keyboard spielen. Wer mag, kann in speziellen Musikklassen auch Klarinette, Bass oder Schlagzeug lernen. Die Pennäler machen beim Plakatwettbewerb des Hamburger Verkehrsverbundes mit und veranstalten "Jugend debattiert"-Wettbewerbe.
"Wir versuchen, den Schülern über die Bildung eine neue Welt zu eröffnen", sagt Direktorin Pinck. Sie weiß: Daheim bekommen die wenigsten ihrer rund 880 Schüler Unterstützung beim Lernen. "Wir haben fast nur Kinder aus der unteren Mittelschicht", erklärt die Pädagogin: "Die Bürgerschicht fehlt nahezu völlig."
Für ein deutsches Gymnasium ist das höchst ungewöhnlich, denn häufig bleiben die Bürgerkinder hierzulande an den privilegierten Lehranstalten unter sich. Schulleiterin Pinck sieht sich denn auch mit ganz anderen Schwierigkeiten konfrontiert als ihre Kollegen in den Nobelstadtteilen Eppendorf oder Blankenese: "Ein Drittel unserer Zeit kümmern wir uns darum, den Kindern Selbstbewusstsein zu vermitteln, damit sie ihre Möglichkeiten überhaupt erkennen."
Der neue Bundesländervergleich der internationalen Pisa-Studie, bei dem knapp 45.000 Schüler aus 1487 Schulen getestet wurden, drückt die Undurchlässigkeit des Systems in kühlen Zahlen aus: Die Wahrscheinlichkeit, nach der Grundschule aufs Gymnasium zu wechseln, ist für den Spross einer Akademikerfamilie im Bundesdurchschnitt viermal so hoch wie für ein Arbeiterkind - bei gleicher Begabung. In Bayern haben Akademikerkinder sogar sechsmal größere Chancen, den Weg Richtung Abi einzuschlagen.
"Das deutsche Bildungssystem verschenkt wertvolles Potential", warnt Pisa-Koordinator Andreas Schleicher von der OECD. Auch Bildungsforscher Wilfried Bos, Chef des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung, urteilt: "Deutschland ist Weltmeister in sozialer Ungleichheit."
Die frühe Absage an eine ganze Gruppe potentieller Akademiker sei zudem "ökonomisch dumm", sagt Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs: "Bildung ist die wichtigste Triebkraft für Wachstum." Schon heute nehmen in Deutschland weit weniger junge Menschen ein Studium auf als etwa in Großbritannien oder den Niederlanden. Zugleich liegt laut der aktuellen Pisa-Studie in 13 Bundesländern der Anteil der sogenannten Risikoschüler, die bei der Lesekompetenz auf niedrigstem Niveau dümpeln, noch immer über dem OECD-Durchschnitt.
Dabei hätten die Kultusminister die Pisa-Ergebnisse so gern als Belege für ihre Reformerfolge gedeutet. Fast sah es auch danach aus, als die Pisa-Daten kurz vor der Bundestagswahl hastig und ohne ausführliche Analysen vorveröffentlicht wurden. Denn eines immerhin offenbaren die Zahlen: Die deutschen Schüler haben sich in vielen Bereichen verbessert, in Mathematik schaffen es inzwischen sogar zwölf Bundesländer in den OECD-Durchschnittsbereich oder darüber hinaus.
Doch jetzt liegt die Langfassung des Ländervergleichs vor, und sie präsentiert ein Bild der deutschen Schullandschaft, wie es in dieser Detailgenauigkeit noch keine Bildungsstudie getan hat. Nun wird klar: Für viele Probleme gibt es kaum den Ansatz einer Lösung.
Nicht nur die Leistungen der 15-Jährigen in Mathematik, Lesen, Naturwissenschaften und Problemlösen wurden geprüft. Die Pisa-Forscher wollten auch wissen, ob im Elternhaus der Kinder Lexika oder Computer stehen, welche Sprache daheim gesprochen wird und was die Schüler zum Lernen motiviert.
Auch die Lehranstalten selbst nahmen die Pisa-Forscher um den Kieler Didaktiker Manfred Prenzel genau unter die Lupe. Ergebnis: Es gibt Schulen, die weit mehr aus ihren Möglichkeiten machen als andere. Die Wissenschaftler teilten die Schulen für ihre Analyse in "belastete" und "unbelastete" Lehrstätten ein. Die belasteten schlagen sich mit Problemen herum wie Christine Pincks Gymnasium Allermöhe: Sie liegen in schwierigen Stadtvierteln oder leiden an schlechter Ausstattung - es fehlt an Laborplätzen, Material und Fachlehrern.
Etwa 59 Prozent der deutschen Schulen sehen sich selbst in diesem beklagenswerten Zustand. Doch nicht alle verfallen deswegen in Lethargie. Die Pisa-Forscher unterteilten die Schulen noch einmal: diesmal in aktive und passive Schulen. In den aktiven tut sich etwa das Kollegium bei der Unterrichtsplanung zusammen, die Lehrer suchen den Kontakt zu den Eltern und setzen gemeinsame Ziele für die Entwicklung der Schule.
Dabei fällt auf, dass Sorglosigkeit offenbar träge macht: Der Anteil aktiver Schulen liegt nirgends so niedrig wie unter den unbelasteten Gymnasien - bei ganzen 13 Prozent. Voller Elan sind dagegen offenbar die Pädagogen in den neuen Bundesländern: In Thüringen zählen 76 Prozent der Schulen zur Klasse der aktiven.
Beim Pisa-Kellerkind Bremen hingegen verharren satte 50 Prozent der belasteten Schulen in Passivität. "Hier gäbe es noch einiges zu tun", urteilt Pisa-Chef Prenzel, "die Schulen haben selbst große Gestaltungsmöglichkeiten - Erfolg hängt nicht allein von den Rahmenbedingungen ab."
Das glaubt auch die Hamburger Schulleiterin Pinck. Rund zwei Drittel der Allermöher Schüler, schätzt die Pädagogin, schaffen am Ende die Hochschulreife. "Auch in sozialen Brennpunkten können wir Kinder aus bildungsfernen Schichten zum Abitur bringen", sagt sie.
Doch gerade das werde noch viel zu selten versucht, glaubt der Bildungsökonom Wolfgang Böttcher von der Uni Münster. "Es gibt in Deutschland keine Förderkultur", so Böttcher, "deswegen haben die Befunde über die soziale Ungleichheit aus der Pisa-Studie auch keinen einzigen Wissenschaftler überrascht." Böttcher schrieb bereits vor 20 Jahren seine Dissertation zum Thema Chancenungleichheit - und seither habe sich nichts getan.
"Deutsche Pädagogen betrachten es nicht als spannende Aufgabe, die Schwachen zu unterstützen", erklärt der Forscher. Vor kurzem fragte er angehende Lehramtsstudenten, in welcher Schulform sie später unterrichten wollten. "Außer einer einzigen Abiturientin wollten alle ans Gymnasium oder die Grundschule", erinnert er sich, "die Hauptschule, fanden sie, sei ein Arbeitsplatz für diejenigen, die sonst nirgends unterkommen."
Das traditionelle Förderinstrument deutscher Lehrer jedenfalls, das Wiederholen eines Schuljahrs, bringt fast keinen Schüler weiter - auch das ist in der neuen Pisa-Studie nachzulesen.
"Sehr viele Kinder haben eine verzögerte Schullaufbahn, ohne dass sie dadurch bessere Leistungen bringen", erklärt Wissenschaftler Prenzel. "Sitzenbleiben und Zurückstellen bringt in den allerwenigsten Fällen etwas."
Nicht nur ungerecht ist das deutsche Schulsystem, sondern auch besonders uneinheitlich. Die Leistungsunterschiede zwischen Spitzenland Bayern und Schlusslicht Bremen betragen mehr als ein Schuljahr; die mathematische Kompetenz bayerischer Realschüler liegt über derjenigen von Bremer Gymnasiasten.
Gleichzeitig jedoch bringt Bayern weit weniger Abiturienten hervor als andere Länder und schließt mit einem der selektivsten Schulsysteme besonders viele Arbeiterkinder von seinen Gymnasien aus. "Der Schlüssel zum Erfolg ist ganz klar die Förderung der schwachen Schüler", resümiert Forscher Prenzel.
Das einzig wirklich gute Zeugnis indes stellten sich die Pisa-Forscher selbst aus. Ihre Testfragen seien offenbar mit solcher List ersonnen, dass sie sich stumpfem Pauken schlicht entziehen. Beim jüngsten Pisa-Test wollten Prenzel und sein Team wissen, ob die Schüler vor der Prüfung mit alten Aufgaben trainiert hatten. "Pisa-Aufgaben kann man nicht üben", berichtet Prenzel stolz, "wo das versucht wurde, haben sich die Schüler sogar verschlechtert."
spiegel.de
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