„Post-Boom-Modelle“ dringend gesucht
Südamerika hat im letzten Jahrzehnt schon bessere Zeiten gesehen. Vor fünf Jahren, als sich Europa gerade dem Höhepunkt der Staatschuldenkrise näherte, meldeten Länder wie Brasilien und Argentinien aus damaliger Sicht astronomische Wachstumszahlen. Doch die Krise kam auch dort an - mit Verspätung und über den Umweg Rohstoffmarkt.
Die Preise sind vor allem, aber nicht nur, bei Erdöl stark gesunken. Bei Rohöl sind es seit letztem Juni mehr als 60 Prozent, im Sommer 2008, auf dem Höhepunkt der Rohstoffhausse vor der Krise, kostete Öl dreimal so viel wie derzeit. Die Preise für Kupfer und Gold gaben seit 2012 um mehr als 30, der für Sojabohnen um über 40 Prozent nach.
Nicht nur für Länder wie Russland, den weltweit zweitgrößten Erdölexporteur, sind die Folgen fatal. Venezuela etwa, wo Erdöl und Erdölprodukte mehr als 90 Prozent des Exportvolumens ausmachen, steckt in einer Rezession, die Inflation beträgt über 60 Prozent. Der staatliche Ölmonopolist Petroleos de Venezuela SA (PDVSA), früher Melkkuh Nummer eins für die Regierung, hat mittlerweile Schulden, die Devisenreserven neigen sich dem Ende zu.
Venezuela sieht sich als Opfer im „Ölkrieg“
Staatspräsident Nicolas Maduro, Nachfolger des 2013 verstorbenen Hugo Chavez, warf den USA kürzlich in einer TV-Rede vor, einen „Ölkrieg“ gegen sein Land und Russland zu führen. Tatsächlich ist der Schieferölboom in den USA ein Grund für den Preisrutsch, aber nicht der einzige - genauso, wie dieser wiederum nicht der einzige für die Misere in Venezuela ist. Das Land hat nicht ganz umsonst den Ruf, die „wahrscheinlich am schlechtesten verwaltete Volkswirtschaft der Welt“ („The Economist“) zu sein.
Zuletzt sprang einmal mehr China als Investor ein und vereinbarte mit dem lateinamerikanischen Land Kooperationsabkommen in einem Volumen von umgerechnet fast 18 Mrd. Euro - idealerweise diesmal nicht im Rohstoffsektor. Venezuela soll unter anderem Computer bauen und sein Breitbandnetz ausbauen.
Das „Zugpferd“ China macht Pause
Stichwort China: Die Volksrepublik mit ihrem rasanten Wirtschaftswachstum galt lange als Garant dafür, dass das Rohstoffgeschäft langfristig gut laufen wird. Nicht umsonst habe Brasiliens Präsidentin Dilma Roussef nach ihrer Wahl 2011 als Allererstes in Peking angeklopft, hieß es zuletzt in der „Financial Times“.
Nach ihrer Wiederwahl 2014 ziehe es sie nun eher in Richtung Washington. Chinas Wirtschaft wächst mit über sieben Prozent aus europäischer Sicht zwar immer noch astronomisch, doch der Wert liegt unter dem Niveau der Krisenjahre 2008 und 2009, 2010 waren es über zehn Prozent gewesen. Damit erfüllen sich nicht alle Hoffnungen auf das Zugpferd China und seinen immer größer werdenden „Hunger“ nach Erdöl und Industrierohstoffen.
Alle spüren Ende des Booms
Der Preisrückgang an den Rohstoffmärkten habe in Südamerika „gefährliche Risse“ hinterlassen, mögliche Folge könnten „tiefgreifende wirtschaftliche und politische Veränderungen“ sein, hieß es im „Financial Times“-Artikel. Es erwische fast alle südamerikanischen Länder auf ähnliche Weise. Sie benötigten dringend neue Wirtschaftsmodelle.
Argentinien spürt den Preisrutsch bei Soja, Peru (einer der weltweit führenden Gold- und Kupferproduzenten) und Chile (Südamerikas exportstärkstes Land) spüren die schwächere Nachfrage bei Metallen, Kolumbien geht es ähnlich. Die Neuverschuldung Perus und Kolumbiens dürfte in diesem Jahr auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen, ein Wert, den es in den beiden Ländern seit den 1990er Jahren nicht mehr gegeben hat.
Keine Szenarien wie in 1990er Jahren
Brasilien, dessen Exportwirtschaft laut der britischen Wirtschaftszeitung zu 60 Prozent vom Rohstoffgeschäft abhängig ist, hätte letztes Jahr ein Außenhandelsdefizit von umgerechnet fast 3,8 Mrd. Euro wegstecken müssen - wiederum ähnlich wie in den 1990 er Jahren, als Lateinamerika von Krisen geschüttelt wurde (Argentinien-Krise, „Tequila-Krise“ in Mexiko, Finanzkrise in Brasilien). Er sei „sehr besorgt“, sagte der frühere kolumbianische Finanzminister und international anerkannte Wirtschaftsexperte Jose Antonio Ocampo gegenüber dem Blatt.
Während der Krise in Europa und den USA hätten sich südamerikanische Leistungsbilanzdefizite (die laufenden Ausgaben eines Landes übersteigen sein „Einkommen“, Anm.) um ein Prozent des BIP bewegt, sollten die Rohstoffpreise noch weiter fallen, könnte der Wert sieben Prozent erreichen. Damit würde ein plötzliches Loch von fast 300 Mrd. Euro aufgerissen, ein enormes Risiko für die Region, so Ocampo. Der Wirtschaftswissenschaftler, jahrelang UNO-Sekretär für Wirtschaft und Soziales und Universitätsprofessor in New York, hat über 40 Bücher und Fachartikel zu Politik und Makroökonomie verfasst.
Szenarien wie in den 1990er Jahren sehen Experten wie er trotz des Ernstes der Lage nicht heraufdämmern - Venezuela ausgenommen. Die südamerikanischen Länder hätten grundsätzlich noch immer vergleichsweise wenige Schulden und guten Zugang zu internationalem Kapital. Ein Puffer sei auch eine Wirtschafts- bzw. speziell Währungspolitik, die heute besser sei als seinerzeit. Laut „Financial Times“ flossen im Vorjahr fast 160 Mrd. Euro nach Südamerika - allerdings wiederum ein Drittel in den Bergbau- und Energiesektor.
Venezuela rückt an den Rand des Bankrotts
In Venezuela allerdings ist nach Einschätzung von Experten das Risiko einer Staatspleite mittlerweile hoch. Mitte Jänner stufte die US-Ratingagentur Moody’s das Land auf „Caa3“ ab - die vorletzte Stufe vor „Zahlungsausfall“ („C“). Aber selbst der würde nur begrenzte Folgen haben, lautet zumindest die Meinung des Londoner Wirtschaftsberatungsunternehmens Capital Economics. Eine „Ansteckung“ anderer südamerikanischer Länder werde es kaum geben.
Zeiten des rasanten Wachstums vorüber
Der „neue Stand der Dinge“ habe für den Subkontinent im Wesentlichen drei Folgen, analysierte die „Financial Times“. Erstens müssten die betroffenen Länder sparen, was sich negativ auf die Konjunktur auswirkt. Damit ist auch die große Schwellenländereuphorie vorerst einmal vorbei. „Langsameres Wachstum ist die neue Normalität“, heißt es von Capital Economics.
Zweitens, und sehr zentral: Die Länder brauchten ein „Post-Boom-Wirtschaftsmodell“, das sie noch nicht oder erst in Ansätzen haben. Drittens könnten die Nord-Süd-Handelswege, die während des großen Rohstoffbooms zugunsten Chinas weniger interessierten, nun wieder interessanter werden.
Afrika hat ähnliche Probleme wie Südamerika
Mit derselben Problematik, allerdings bezogen auf Afrika, befasste sich kürzlich auch der britische „Economist“ und kam zu dem Schluss, dass sich die Wirtschaft dort langsam, aber sicher aus der Umklammerung der Rohstoffmärkte zu befreien beginnt. Ein Indiz dafür: Trotz des Ölpreisknicks würden die afrikanischen Volkswirtschaften heuer im Durchschnitt um fünf Prozent wachsen.
Laut dem britischen Wirtschaftswochenmagazin hat das zumindest zwei Gründe: Zum einen wachsen in vielen afrikanischen Ländern mittlerweile andere Sparten der Wirtschaft stärker als der Rohstoffsektor, zum anderen hätten die Regierungen attraktive Rahmenbedingungen für Auslandsinvestitionen geschaffen. Ruanda, vor 21 Jahren Schauplatz des schlimmsten Genozids der letzten Jahrzehnte, biete heute ein besseres Umfeld für Unternehmen als Italien, so der „Economist“ mit Verweis auf den „Doing Business Report“ 2015 der Weltbank.
„Noch ein weiter Weg“
Das Volumen der ausländischen Investitionen in Afrika stieg in den letzten Jahren stark, Geld fließt vermehrt in den Finanz- und Konsumgütersektor, in die Logistik, Telekommunikation und den Tourismus. Damit würden die betreffenden Länder immer unabhängiger vom Rohstoffgeschäft, sie versuchen sich wirtschaftlich breiter aufzustellen. Als Beispiel verweist das Wirtschaftsmagazin auf Angola, wo der Erdölsektor für die Gesamtwirtschaft bisher von ähnlicher Bedeutung war wie für Venezuela. Mittlerweile komme ein Drittel des BIP aus anderen Sektoren wie Bauwirtschaft, Fischerei und Fertigungsindustrie. In Nigeria, wie Angola Mitglied der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC), wachsen die Sektoren Finanzen und Telekommunikation stark.
Trotzdem sei es für Afrika „noch ein weiter Weg“, räumt auch der „Economist“ ein. Die wirtschaftliche Lage werde nur „graduell“ besser, Armut und Abhängigkeit seien nach wie vor allgegenwärtig. Ähnlich verhält es sich mit Korruption und Schattenwirtschaft und Eliten, die sich Geld und Einfluss teilen - kurz: In vielen afrikanischen Ländern bedeutet Wirtschaftswachstum auch heute noch keine automatische Verbesserung der Lebensbedingungen.
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