Hinter den Gittern wird für Allah missioniert In schweizerischen Gefängnissen bilden Muslime die grösste Glaubensgemeinschaft. Imame nehmen sich ihrer an. Doch einige dieser Geistlichen sind nicht an Seelsorge interessiert, sondern an der Re-Islamisierung der Gefangenen. Von Sibylle Stillhart Eine Frage brennt Efendi* auf der Zunge. «Wenn alles auf der Welt von Allah kommt - hat er dann auch die Technologie erfunden?» Die versammelte Mannschaft bricht in Gelächter aus. Auch der albanische Imam, dem die Frage gilt, schmunzelt. «Natürlich», meint Nebi Redzepi, sobald wieder Ruhe im Raum 107 eingekehrt ist. «Allah hat sie erfunden und seine Idee danach einem Menschen eingetrichtert.»
Es ist Montag, Viertel nach sechs Uhr abends. Koranschule steht auf dem Programm. Allerdings findet der Unterricht nicht in einem zur Moschee umfunktionierten alten Fabrikgebäude irgendwo im Industriequartier statt. Auch sind die Eleven keine minderjährigen Schulkinder. Nebi Redzepi lehrt heute in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies: Er will den albanischen Gefangenen, die hier vorwiegend wegen schwerer Drogendelikte jahrelange Strafen absitzen, in die moralischen Prinzipien des Korans einweihen. Alle zwei Wochen findet die Religionskunde in einem vergitterten Schulungsraum mit Blick auf den Gubrist statt. Die zehn interessierten Insassen dürfen dann jeweils während eineinhalb Stunden den Gottesmann der albanisch-islamischen Gemeinschaft Zürich über ihren Glauben befragen.
«Ich möchte wissen, ob wir Muslime unsere Cousinen heiraten dürfen, so wie das die Araber und Türken tun», meldet sich Fejza* in breitem, fast akzentfreiem Zürich-Slang zu Wort. Der Imam blättert im Koran, bis er die entsprechende Sure findet. Es stehe zwar nirgends, dass dies untersagt sei, erklärt er dann. Doch die Mentalität der Albaner würde eine solche Eheschliessung verbieten. Auch, fügt er an, sei es für einen muslimischen Albaner nicht üblich, dass er zwei, drei oder vier Frauen eheliche - obwohl dies gemäss koranischer Vorschrift erlaubt wäre. «Das ist auch logisch», sagt Mehmeti*, «ich habe schon genug Probleme mit einer Frau, weshalb soll ich mich noch mit weiteren Frauen einlassen?» Erneut lacht die Runde.
Selten Schweinefleisch Doch Nebi Redzepi, der so gottesfürchtig ist, dass er keiner Frau die Hand reicht, bittet um mehr Aufmerksamkeit: «Wir besprechen die Lehren unseres Glaubens», mahnt der gebürtige Mazedonier, der im saudiarabischen Medina die Ausbildung zum Imam absolviert hat und seit neun Jahren mit seiner Familie in Dietikon lebt. «Das ist eine ernste Angelegenheit.»
Islamische Betreuung gehört mittlerweile zum Gefängnisalltag. Beteten vor zwanzig Jahren in der Pöschwies nur zwölf Insassen zu Allah, machen heute die Muslime - meist Flüchtlinge oder Immigranten aus Mazedonien, Albanien oder Kosovo - die grösste Glaubensgemeinschaft aus: Von den rund 340 Inhaftierten anerkennen 129 Mohammed als ihren Propheten. Auch in den anderen grossen Schweizer Gefängnissen ist die Anzahl der Muslime in der jüngeren Vergangenheit merklich angestiegen: In der Strafanstalt Lenzburg im Aargau sind 70 von 175 Insassen Muslime, in der St. Galler Strafanstalt Saxerriet sind es knapp 40 von 153, und in der Anstalt Thorberg im Kanton Bern ist gar die Hälfte der 168 Häftlinge islamischer Herkunft.
«In der Schweiz gilt die Glaubensfreiheit», sagt Ueli Graf, Direktor der Strafanstalt Pöschwies. «Deshalb muss jeder Häftling seine Religion praktizieren können.» Neben Nebi Redzepi nehmen sich im Pöschwies zwei weitere Imame der Delinquenten an. Jede Woche findet das Freitagsgebet statt; Koranunterricht sowie religiöse Gesprächsrunden darf besuchen, wer seinen Glauben vertiefen möchte. Auch die Gefängnisküche hat sich den veränderten Gegebenheiten angepasst: Schweinefleisch steht nur noch selten auf dem Speisezettel, was hin und wieder für Unstimmigkeiten sorgt. «Es kommt vor, dass ein Nichtmuslim reklamiert, weil er wieder einmal ein Kotelett oder einen Cervelat essen möchte», erzählt Ueli Graf.
Auch in der Anstalt Thorberg mussten sich die Glaubensgemeinschaften erst aneinander gewöhnen. «Nichtmuslime haben beanstandet, dass das Freitagsgebet jeweils während der Arbeitszeiten stattfand», erzählt Direktor Hans Zoss. Seither muss das Freitagsgebet in der Freizeit abgehalten werden. «Nun wird der Anlass nicht mehr so rege besucht wie früher», meint Zoss schmunzelnd. Zurzeit kommt ein Arabisch sprechender Vorbeter vorbei. Man sei aber zusätzlich auf der Suche nach einem muslimischen Betreuer, der Deutsch spreche und sich auch um die nicht Arabisch sprechenden Muslime kümmern könne. Wohl ein frommer Wunsch. Denn die Nachfrage nach muslimischen Geistlichen übersteigt bereits ausserhalb der Gefängnismauern das Angebot massiv. Ungefähr 80 Imame - was übersetzt Vorbeter oder Gemeindevorsteher bedeutet - stehen den geschätzten 350 000 Muslimen in der Schweiz zur Seite. Kommt hinzu, dass kaum ein Imam über eine entsprechende seelsorgerische Ausbildung verfügt: Wurden vor zwanzig, dreissig Jahren in der Schweiz die Frömmsten einer islamischen Gemeinde zum geistlichen Oberhaupt gewählt, reisen heute vermehrt frischgebackene Universitätsabgänger in die Schweiz, die in ihrem Herkunftsland islamisches Recht, die Scharia, studiert haben. Imame sind nicht wie Priester Theologen, sondern Juristen.
Und während die christliche Gefängnisseelsorge sich mit Selbstreflexion und Gewissenserforschung beschäftigt, beschränkt sich die islamische Arbeit vorwiegend auf die innere Mission, die Re-Islamisierung vom Weg abgekommener Glaubensbrüder. Das seelsorgerische Zwiegespräch, das zum Ziel hat, sich der Sorgen und Nöte von Gefangenen anzunehmen, fehlt meistens. Es sei schon öfter vorgekommen, dass ein muslimischer Gefangener ein Gespräch mit einem christlichen Seelsorger verlangt habe, sagt Urs Gisler, reformierter Pfarrer und Seelsorger in der Kantonalen Strafanstalt Zug und der Interkantonalen Strafanstalt Bostadel. Ihm sei es vor allem wichtig, dass sich Gefangene frei aussprechen könnten und sich verstanden fühlten. «Religiöse Themen werden nur angesprochen, wenn es jemand wünscht», erklärt Gisler.
Zuflucht beim Pfarrer Für Ahmed Afifi, der sich vor über zehn Jahren zum Gefängnis-Imam ernannt hat, steht das Glaubensbekenntnis zuvorderst. Er möchte glaubens- schwache Muslime auf den richtigen Weg führen, «ihnen die Augen öffnen», wie er es nennt. Denn: «Ein richtiger Muslim muss sich an bestimmte Regeln halten», findet der studierte Maschineningenieur. Dazu gehören das Koranstudium sowie täglich fünfmal das Gebet. Zu Beginn seiner Mission stiess der gebürtige Ägypter, der seit 25 Jahren in der Schweiz lebt, auf Skepsis. «Die Gefangenen glaubten, ich sei ein Spitzel, der sie aushorchen wolle.» Doch mit der Zeit legte sich der Argwohn, und heute kann Afifi in Ruhe seine Lehren verkünden. Mittlerweile ruft er abwechslungsweise mit einem türkischen Imam, ebenfalls einem Laien, zum wöchentlichen Freitagsgebet in der Pöschwies.
Solche Entwicklungen beobachtet Farhad Afshar, Soziologe an der Universität Bern und Präsident der Koordination Islamischer Organisationen Schweiz (KIOS), kritisch. Seit Jahren plädiert er für einen islamisch-theologischen Lehrgang, wie er an der Religionspädagogischen Akademie in Wien angeboten wird: «Künftige islamische Geistliche sollen an einer Schweizer Hochschule geschult werden - auch in der Seelsorge und Gemeindearbeit», sagt er. Auch die Ausbildung im Ausland für Imame, die in der Schweiz eine Gemeinde führen sollen, hält Afshar nicht für optimal. «Wer in Saudiarabien, Ägypten, in Iran oder in der Türkei studiert, weiss nicht, mit welchen Problemen Muslime hier konfrontiert sind.»
Diese Bedenken teilen die Pöschwieser Koranschüler von Nebi Redzepi nicht. «Wir sind froh, dass wir einen Führer haben, der uns unseren Glauben erklärt», sagt Efendi, der den Unterricht regelmässig besucht. Immerhin war er auch ohne Seelsorge zur Einsicht gelangt, dass Drogen «eine grosse Sünde» seien. «Hätte ich schon vorher gewusst, wie streng der Koran darüber urteilt, hätte ich mich niemals auf dieses Geschäft eingelassen.» Doch selbst Imam Nebi Redzepi weiss nicht recht, ob er Efendis Beteuerung glauben soll.
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