Es ist grundsätzlich richtig, daß ein steigender Lebensstandard die Motivation der Menschen, sich neue Lebensperspektiven in anderen Ländern zu suchen, senkt.
Im Hinblick auf die Türkei sind aber zwei Dinge anzumerken: Erstens kann die ökonomische Entwicklung in der Türkei bereits durch eine enge wirtschaftliche Anbindung an die EU gefördert werden. Dazu bedarf es keines Beitritts zur politischen Union. Mit der Zollunion zwischen der Europäischen Union und der Türkei, die am 1.1.1996 in Kraft trat, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung getan worden. Diese Kooperation gilt aus auszubauen, etwa durch eine Angleichung der wirtschaftsrechtlichen Normen.
Zweitens würde die vollständige Integration der Türkei in die EU aus arbeitsmarktpolitischer Sicht für das Land auch Nachteile bringen. In der Türkei sind etwa 35% der Erwerbsttätigen in der Landwirtschaft tätig. Das ist deutlich mehr als im Durchschnitt der EU. Mit Übernahme des EU-Agrarsystems, das auf effiziente Strukturen und eine Technisierung der Landwirtschaft setzt, werden viele Beschäftigungsmöglichkeiten in der türkischen Agrarwirtschaft wegfallen. Die davon betroffenen Menschen werden sich deshalb neue Jobs suchen müssen, die sie aber schon wegen ihrer geringen Qualifikation auch in der Türkei kaum finden werden. Für sie ist deshalb Auswanderung nach Europa die Perspektive.
Was die Zuwanderungsprognosen betrifft, so gehen türkische Wissenschaftler tatsächlich von 10-15 Millionen Migranten nach Europa im Falle eines EU-Beitritts der Türkei aus. Die EU-Kommission schätzt die Zahl auf 2-4 Millionen. Die Wahrheit dürfte irgendwo in der Mitte liegen.
Zur möglichen Zuwanderung aus Osteuropa nach 2011: Die höchste Arbeitslosigkeit in EU-Europa weisen gegenwärtig die Slowakei (11%) und Polen (8,5%) auf. Bei den Erwerbslosen handelt es sich (jedenfalls in Polen) in erster Linie um Menschen mit geringer Qualifikation. Höherqualifizierte Arbeitskräfte werden dagegen auch in Polen dringend gesucht. Man wird abwarten müssen, wie sich die Arbeitsmarktlage dort in den nächsten 3 Jahren bis zur Herstellung der vollen Freizügkeit entwickelt. Schon auf mittlere Sicht schlägt aber der beschriebene demographische Faktor durch, weshalb kaum mit einer dauerhaft hohen Zuwanderung aus den osteuropäischen EU-Staaten etwa nach Deutschland zu rechnen ist.
J.R.
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