Anno Domini
Weil die christliche Zeitrechnung mit dem Jahr eins beginnt, fängt streng genommen das dritte Jahrtausend erst am 1. Januar 2001 an. Wir lassen uns dennoch die Feier nicht verderben. Kalender sind Definitionssache, das Jahrtausend beginnt, weil die Magie der runden Zahl jedes Argument verdrängt. Nötige Klarstellungen zum Kalender-Streit.
Von PETER SCHMACHTHAGEN
Meine Frau kam eben vom Einkaufen aus der nahen Kreisstadt zurück und überreichte mir eine Silvesterrakete. Nur eine, denn sie will in Gedanken an die hungernden Kinder in der Dritten Welt schließlich das Geld nicht in den Himmel böllern und meint zudem, wegen Georgie, ihres Cockers, dürfe nicht zu viel Lärm ums Haus sein. Aber dafür war es diesmal eine besonders große Rakete. "Weil Jahrtausendwende ist", sagte meine Frau und strahlte. Wenn die Gute sich in dieser Hinsicht bloß nicht irrt! Offensichtlich hat sie noch nie etwas von Bürgermeister Baptist Faulstich aus Staffelstein am Staffelberg gehört, der zusammen mit dem dortigen Festausschuss über die Köpfe der Bürger hinweg beschlossen hat, dass in seinem fränkischen 10 000-Einwohner-Städtchen am Oberlauf des Mains die Jahrtausendfeiern nicht zu Silvester 1999, sondern erst Silvester 2000 stattzufinden haben. Ganz amtlich. Punktum. "Der 31. Dezember 1999 ist für uns ein ganz gewöhnlicher Silvestertag." Nun wäre das nicht der einzige dumme Beschluss, den pensionierte Oberlehrer und ehrenamtliche Museumswärter irgendwo auf Gemeindeebene gefasst hätten, aber dieser Bürgermeister beruft sich auf den "größten Sohn der Stadt", der dort geboren worden ist: auf Adam Ries, genannt Adam Riese (um 1492 bis 1559). Und er hat auch gleich ein Rechenbeispiel zur Hand, das, könnte er rechnen, eigentlich das Gegenteil bewiese: Wenn man eine Wurst Gramm für Gramm auf die Waage legte, hätte man 2000 Gramm erst "am Ende" der 2000 Scheibe erreicht. Der Zeiger der Waage müsste demnach auf 2001 zeigen (HA, 16.12.99: "Der Rest der Welt irrt"). Im übrigen Teil Deutschlands zeigt der Zeiger einer Waage auf 2000, wenn zwei Kilogramm darauf liegen. Dafür sorgt schon das bundesdeutsche Eichgesetz. In Staffelstein mag es ja anders sein, aber solche Ergebnisse lassen eher den Grund erahnen, warum Adam Riese fluchtartig seine Geburtsstadt verlassen hat, kaum dass er laufen konnte. Auch Hamburg hat seine Rechenkünstler. Und da Hamburg größer ist als Staffelstein, sind es hier auch einige mehr. Wenn irgendwo im Zusammenhang mit dem heutigen Datum von "Jahrtausendwende" oder "Jahrtausendwechsel" die Rede war, wurde das Hamburger Abendblatt geprügelt, und nicht nur das Abendblatt (siehe Schlichtweg die Unwissenheit Ihrer Redaktion). Ein Leser hat verbissen seiner Hausratsversicherung und dem Brötchenjungen gekündigt, weil sie ihm einen guten Rutsch ins nächste Jahrtausend gewünscht hatten. Ein anderer aus Norderstedt wollte mich zwingen, zum Beweis 2000 Schokoladentäfelchen hintereinander aufzuessen, ein Experiment, das aber wegen Figurproblemen im frühen Stadium abgebrochen werden musste. Ein weiterer Leser will dauernd irgendwelche 2001-Meter-Läufe veranstalten, einer drohte mit einer Strafanzeige wegen Betrugs, und die meisten Kritiker haben das Dezimalsystem gründlich missverstanden oder wenden es auf eine Zeit an, in der es noch gar kein Dezimalsystem und erst recht nicht die Null als Zahl gab. Dabei haben diese Leser und vielleicht der Bürgermeister von Staffelstein im Grunde sogar Recht, sie erklären es nur falsch. Die ganz simple Tatsache ist, dass eine leere Waage null Gramm zeigt und die Skala nicht bei eins beginnt, dass der 2000-Meter-Läufer nicht bei einem Meter, sondern bei null startet, dass der Gefrierpunkt nach Celsius bei null und nicht bei eins liegt und dass ein Kind an seinem ersten Geburtstag bereits ein Jahr lang gelebt hat dass jedoch der Zeiger der Zeitskala zur christlichen Zeitenwende auf eins zeigt. Ein Jahr null hat es nicht gegeben. Nun ergibt, diesmal wird Adam Riese nicht widersprochen, 1 plus 2000 in der Tat das Jahr 2001 Demnach wären 2000 Jahre seit der Zeitenwende erst am 31. Dezember 2000, 24 Uhr, abgelaufen. Das Abendblatt hat seinen Lesern diese Grundregel der historischen Chronologie (Lehre von der Zeit) nie verschwiegen. Gleich zu Beginn des Jahres stand zu lesen: "Wenn wir unsere Finger zu Hilfe nehmen und sorgfältig Jahr für Jahr abzählen, fehlt uns das Jahr null und das dritte Jahrtausend beginnt, streng mathematisch gesehen, tatsächlich erst am 1. Januar 2001" (HA, 2.1.99: "Das Kreuz mit den Kalendern"). Bevor Sie nun voller Enttäuschung den Sekt in den Keller zurückbringen, die Fliege wieder vom Hals reißen und das kleine Schwarze noch für ein Jahr einmotten, lesen Sie bitte weiter. Niemand will Ihnen die Feier verderben. Letztendlich ist alles bis hin zum Millennium eine Frage der Definition, und auch unsere Genaurechner berufen sich auf Definitionen, die fraglich oder falsch sind. Es hat im Übrigen schon früher diesen Streit um die Datierung des Jahrhundertsprungs gegeben. Am Ende des 18. Jahrhunderts schlugen sich Goethe und Schiller auf die Seite der "Einser" und plädierten für 1801, hundert Jahre später wurde diese Frage vom Kaiser entschieden: Das 20. Jahrhundert beginnt am 1. Januar 1900 Basta. Aber nur in Deutschland. Die "New York Times" berichtete: "Raketen stiegen in den Himmel, und das neue Jahrhundert hielt triumphierend Einzug" in der Ausgabe vom 1. Januar 1901 Dort war man genauer. Derzeit resignieren die Wissenschaftler. Otto Wörbach, Leiter des Planetariums in Freiburg, meint: "Dieses Mal kann offenbar niemand mehr den richtigen Zeitpunkt abwarten. Dieses Mal hat die Bevölkerung in überwältigender basisdemokratischer Abstimmung aus dem Bauch heraus längst entschieden: Das neue Jahrhundert, das dieses Mal sogar ein neues Jahrtausend einleitet, beginnt genau dann, wenn wir es so empfinden, in dem Augenblick also, in dem die 19 zur 20 umspringt und die 99 zur Doppelnull." Bei der Magie dieser runden Zahl sollten wir es belassen: Das neue Jahrtausend startet dann, wenn die Jahreszahl im Datum ein neues Jahrtausend beginnt. Denn auch das ist in gewisser Weise ein Jahrtausendwechsel. Zu stoppen wäre jetzt sowieso nichts mehr. Nicht einmal in Staffelstein. Das ARD-"Mittagsmagazin" vom 23. Dezember hatte, angelockt von Feierboykott, Wurstwaage und Adam Riese, ein Fernsehteam in die Stadt geschickt, das eine Straßenumfrage machte. Der Bürgermeister bekam wenig Schmeichelhaftes zu hören. Eine Frau schimpfte: "Ich fahr wieder nach Chemnitz. Da ist was los!" Wer den Geburtsfehler der christlichen Jahresskala bis ins dritte Jahrtausend schleppen will, müsste konsequenterweise das Jahr 1980 zu den Siebzigerjahren, das Jahr 1990 zu den Achtzigerjahren und das Jahr 2000 also zu den Neunzigerjahren rechnen, wobei er aber leicht in einem Kabarettprogramm landen könnte, falls er in einigen Monaten pathetisch anheben sollte: "Jetzt in den Neunzigerjahren . . ." Kristian Stemmler hat für das Abendblatt die Benennung der Zeit von 2000 bis 2009 bereits vorgenommen (HA, 18.12.99: "Vor den Nullerjahren"). Den "Geburtsfehler" unserer christlichen Zeitrechnung verdanken wir einem Mönch und späteren Abt mit Namen Dionysius Exiguus (um 500 bis 560), was wir etwas salopp mit "Klein Dennis" übersetzen könnten. Er gehörte dem Volk der Skythen an, lebte in Rom, beschäftigte sich mit Kalendern und der Sammlung von Kirchenregeln (canones). 525 bat Papst Johannes I. (470-526, Papst seit 523) ihn, das Osterdatum für das folgende Jahr zu überprüfen, das strittig war. Zu dieser Zeit versuchte die römische Kirche, sich nicht nur von der Schwesterkirche im Osten, sondern auch von den Astronomen in Alexandria zu emanzipieren. Wir wissen nicht, zu welchem Ergebnis Dionysius in diesem Fall gekommen ist, wir wissen aber, dass er die Ostertafeln für weitere 95 Jahre (zwischen 532 und 627) ergänzt hat. Nach dem Beschluss des 1. Konzils (Bischofskonferenz) von Nicäa im Jahre 325 konnte das Osterfest, das wichtigste Fest im Kirchenjahr, auf einen Sonntag zwischen dem 22. März und dem 25. April fallen und erforderte komplizierte Berechnungen von Mondzyklen, Epakten (Mondphasen), Wochentagen, Indiktionen, des Passahfestes, und das alles mit dem alten römischen System der Kalenden, Iden und Nonen, um schließlich den Ostersonntag bestimmen zu können. Solche Berechnungen konnte nicht jeder Mönch in der Provinz selbst vornehmen, dazu bedurfte es eines Spezialisten mit seinen Tabellen. Dionysius wäre längst vergessen, hätte er nicht quasi nebenbei eine Neuerung eingeführt, ohne die heute weltweit eine Datierung selbst für Nichtchristen kaum noch denkbar wäre: Er bezeichnete auf seinen Tabellen die zu den einzelnen Ostersonntagen gehörenden Jahre als anni Domini nostri Jesu Christi (die Jahre unseres Herrn Jesus Christus). Das hatte vor ihm noch niemand gemacht. Damals war es in Rom üblich, die Jahre seit dem Amtsantritt des Kaisers Diokletian am 29. August 284 (anni Diocletiani) zu zählen. Allerdings widerstrebte es Dionysius, eine christliche Ostertafel ausschließlich nach den Regierungsjahren eines des schlimmsten Christenverfolger aller Zeiten zu bezeichnen, zumal diese Zählung schon damals in wahrer Einschätzung dieses Tyrannen als Aera martyrum bezeichnet wurde. Deshalb setzte Dionysius das 247. Jahr Diokletians mit dem 531. Jahr nach Christi Geburt gleich und begann seine neuen Ostertafeln mit dem Jahr 532 A. D. (anno Domini). Heute würde man sagen: Er synchronisierte zwei Zeitleisten. Die Geburt Christi nahm er für den 25. Dezember des Jahres an, das dem Jahr 1 unserer Zeitrechnung vorangeht. Dieses Jahr entsprach dem Jahr 753 nach Gründung der Stadt Rom (ab urbe condita) oder nach späterer Übung dem Jahr 1 v. Chr. Erst von etwa 1000 an erlangte seine Ära überall in Europa Gültigkeit. Die Päpste übernahmen sie erst ab 1431. Lange Zeit verwendeten die Christen auch nicht die Umkehrung des Systems "vor Christus". Erst 1627 findet sich der erste Nachweis für eine solche Bezeichnung. Deshalb war die erste Jahrtausendwende auch keine Frage der Chronologie und Datierung, sondern eine Frage der Angst vor der Apokalypse, wie Angela Grosse heute im Journal beschreibt ("Die Legende vom Jahr 1000"). Dionysius hatte das Jahr null nicht etwa "vergessen". Die Null war nichts, hatte damals noch nicht den Rang einer Zahl, konnte auch durch keine römische Ziffer dargestellt werden. Erst im 9. Jahrhundert verbreitete sie sich mit den arabischen Ziffern im Abendland. Es wäre anachronistisch, nun mit dem Dionysius und seinen Zeitgenossen vollkommen unbekannten Dezimalsystem unser heutiges Zählproblem erklären zu wollen oder zu sagen, wenn Klein Fritzchen in der Schule bis zehn zähle, fange er ja auch mit der Eins an. Dionysius dachte nicht an die Jahrtausendwechsel späterer Zeiten, er suchte lediglich nach einem Aufsetzpunkt für seine Ostertafeln. Heute würde er ein Jahr null eingeführt haben. Für astronomische Berechnungen wurde es später dazwischengeschoben und dem Jahr -1 v. Chr. gleichgesetzt. Aber in der historischen Chronologie bleibt es dabei, dass wir bis heute -3 v. Chr., -2 v. Chr., -1 v. Chr., 1 n. Chr., 2 n. Chr., 3 n. Chr. zählen müssen. Das bedeutet, dass ein Kind, das am 1. Januar des Jahres 3 vor Christus geboren wurde, am 1. Januar des Jahres 3 nach Christus nicht sechs, sondern erst fünf Jahre alt war, während in einem modernen Koordinatensystem wie der Celsius-Skala die Temperatur natürlich um sechs Grad gestiegen ist, wenn sich die Quecksilbersäule von -3 bis nach +3 bewegt. Auch Werte mit Null wie 0,5 Grad oder minus 0,5 Grad gibt es heute. Da die christliche Zeitenwende erst ein halbes Jahrtausend später festgesetzt worden ist, hat auch kein Zeitgenosse miterleben können, dass auf den 31. Dezember 1. v. Chr. unmittelbar der 1. Januar 1 n. Chr. folgte (Cäsar hatte den Jahresanfang auf den 1. Januar gesetzt). Vielleicht wäre ja sonst doch jemand stutzig geworden. Jesus hätte bei seiner Geburt schon ein Jahr alt gewesen sein müssen. Sollte es sich dabei um ein weiteres Wunder Gottes in einer wunderreichen Zeit gehandelt haben? Nein, Dionysius Exiguus musste den Termin aus unsicheren Überlieferungen mehr als 500 Jahre zurückrechnen, und dabei verrechnete er sich offenbar um ein paar Jahre. Die Wissenschaftler sind sich nicht einig, wann genau Jesus von Nazareth, dessen historische Gestalt auch von Atheisten nicht bezweifelt wird, genau geboren worden ist, aber es muss zu Lebzeiten von König Herodes gewesen sein, der 4 v. Chr. starb. Der deutsche Astronom Johannes Kepler (1571-1630) deutete schon 1606 den Stern von Bethlehem als eine Konstellation der Planeten Jupiter und Saturn, die im Jahre 7 vor Beginn unserer Zeitrechnung eingetreten war. Wenn es Jesus Christus vergönnt gewesen wäre, länger auf der Erde zu wandeln, hätte er seinen 2000 Geburtstag also spätestens im Jahre 1997 gefeiert, und wir könnten, von seiner Geburt an gerechnet, bereits das Jahr 2003 beginnen. Ich habe bisher vermieden, vom Beginn des dritten Jahrtausend "seit Christi Geburt" zu sprechen. Das hat bereits begonnen. Wenn dieser entscheidende Parameter jedoch falsch ist, sollte man nicht beckmesserisch oder "nach Adam Riese" auf dem zweiten beharren. Halten wir uns besser daran, dass die Jahreszahl in wenigen Stunden ein neues Jahrtausend beginnen wird. Ich werde um Mitternacht in den Garten gehen, meine Rakete zünden und den Nachbarn ein glückliches neues Jahr, Jahrzehnt, Jahrhundert und Jahrtausend wünschen. Ihnen auch, liebe Leserinnen und Leser. -------------------------------------------------- Literatur
David Ewing Duncan: Der Kalender. Auf der Suche nach der richtigen Zeit. Heyne Verlag, München 1999 A. von Brandt: Werkzeug des Historikers. Die Zeit: Chronologie. Urban 33. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1958 Joachim W. Ekrutt: Der Kalender im Wandel der Zeiten. 5000 Jahre Zeitberechnung. Kosmos 274. Franckh?sche Verlagshandlung, Stuttgart 1972 Hermann Grotefend: Die Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1960 Robert Kaplan: Die Geschichte der Null. Campus Verlag, Frankfurt Februar 2000
© 31.12.99, Ein Service vom HAMBURGER ABENDBLATT
|