"Fukushima sprengt die Dimension von Tschernobyl"
Interview mit Thomas Dersee, Ges. f. Strahlenschutz, Hannover
SPIEGEL ONLINE: Sprengt die nukleare Katastrophe von Fukushima die Dimension von Tschernobyl?
Dersee: Meiner Ansicht nach ja. In den vier besonders kritischen Reaktoren und den Lagerbecken haben wir es mit sehr viel mehr radioaktivem Inventar zu tun als in Tschernobyl, wo nur ein Reaktor beschädigt wurde. Laut Umweltinstitut München lagerte in Fukushima mindestens 120-mal so viel radioaktives Inventar wie in Tschernobyl. Bei solch gewaltigen Zahlen wird einem ganz flau im Magen. (Anmerkung der Redaktion: Laut "New Scientist" lagerten in Fukushima 1760 Tonnen Brennmaterial - zehnmal so viel wie in Tschernobyl)
Die Daten, die wir bisher zu Bodenbelastung und Ortsdosisleistung um die Anlage herum und in den angrenzenden Präfekturen haben, stützen die These, dass sich ein Super-GAU ereignet hat. Selbst mehrere hundert Kilometer vom Reaktorgelände entfernt hat man bis zu 1,2 Mikrosievert pro Stunde gemessen - normal sind weit unter 0,1 Mikrosievert pro Stunde. Das lässt sich nur mit einer nuklearen Kettenreaktion erklären.
SPIEGEL ONLINE: Sind die havarierten Reaktoren überhaupt noch unter Kontrolle zu bringen?
Dersee: In Fukushima war von Anfang an gar nichts unter Kontrolle. Die sogenannte Kernschmelze schreitet unaufhaltsam voran, der Prozess ist nicht mehr zu stoppen. Dafür muss der Reaktor nicht mal eingeschaltet sein.
SPIEGEL ONLINE: Die japanische Regierung bezeichnete die Kernschmelze in Reaktor 2 als "ein vorübergehendes Ereignis". Was soll man sich darunter vorstellen?
Dersee: Die Kernschmelze läuft in Fukushima meiner Meinung nach schon seit zwei Wochen ab. Sie müssen verstehen: Brennstäbe sind mehrere Meter lange Gebilde, die aus vielen, kleinen Spezialkeramikhülsen bestehen, die Zirkon enthalten und sehr stoßempfindlich sind. Diese Hüllen sind zum Teil zerbrochen, wodurch sich die Geometrie der Brennstäbe verändert hat.
Der Brennstoff Uran bildet kritische Massen und es findet eine autonome nukleare Reaktion statt, die sogenannte Kettenreaktion. Die ist nur zu stoppen, indem man die Brennstäbe entfernt. Weil das unmöglich ist, setzt sich der Vorgang fort. Das ist nicht wie bei einer Bombe, die explodiert, sondern eher wie bei Geysiren, heißen Quellen, in denen sich Druck aufbaut, das Wasser hochschießt und wieder zusammenfällt.
SPIEGEL ONLINE: Was ist derzeit das Worst-Case-Szenario?
Dersee: Ich befürchte, dass es noch wochenlang so weitergeht, bis alle Brennstäbe ausreagiert haben. Das ist eine sehr bedrückende Vorstellung. Je nach Windrichtung und der Menge an Radioaktivität, die entweicht, wird eine Zone von mehreren zehn Kilometern um die Atomanlage vermutlich für die nächsten Jahrzehnte unbewohnbar sein.
SPIEGEL ONLINE: Ist es zu verantworten, bei der Sperrzone einen Radius von 20 Kilometern beizubehalten?
Dersee: Die japanische Regierung hat den Bürgern freundlich empfohlen, freiwillig etwa 30 Kilometer Abstand vom Unglücksreaktor zu halten. Das ist natürlich fahrlässig, bei derzeit herrschenden Radioaktivitätswerten von immer wieder 100 bis 150 Mikrosievert pro Stunde in der Region, vor allem offenbar in nordwestlicher Richtung.
Die Radioaktivität verteilt sich ja nicht gleichmäßig, kreisförmig um die havarierten Reaktoren herum, sondern sie variiert extrem, das weiß man aus Tschernobyl. Deshalb würde ich mich den Vorschlägen der US-Behörden anschließen, die eine Evakuierung im Umkreis von mindestens 80 Kilometern fordert. Die Schiffe sollten sich nicht mehr als 100 Kilometer der Küste nähern.
SPIEGEL ONLINE: Was halten Sie von der Informationspolitik der japanischen Regierung?
Dersee: Sie stellt in der Öffentlichkeit Vermutungen auf, die sich dann als längst eingetretene Tatsachen erweisen. Durch Ungewissheit entstehen Ängste in der Bevölkerung - und das ist wenig hilfreich bei der Bewältigung einer nationalen Katastrophe. In der Regel können die Betroffenen mit harten Fakten besser und rationaler umgehen als mit Halbwahrheiten und enttäuschten Hoffnungen.
SPIEGEL ONLINE: Wie gefährdet sind die Meere?
Dersee: Etwa 30 Kilometer vor der Küste hat man stark erhöhte Werte von 10 bis 60 Becquerel pro Liter gemessen, sowohl Cäsium 137 als auch Jod 131. In der Regel sinken die radioaktiven Stoffe im Wasser ab und werden dann über das Plankton in die Nahrungskette aufgenommen. Die Hoffnung ist, dass sich die Belastung verteilt - aber es gibt je nach Strömung Gebiete, die sehr belastet sind. Die müssen jetzt erst mal eruiert werden. Für die Japaner, die sich sehr viel von Fisch ernähren und gern auch Seetang essen, bedeutet der Verlust dieser Nahrungsquelle einen Kulturschock.
SPIEGEL ONLINE: Wie gefährlich ist das ausgetretene Plutonium?
Dersee: Plutonium ist am gefährlichsten, wenn es eingeatmet wird. Dann kann schon ein einziges Atom das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, immens erhöhen, das haben Tierversuche bewiesen. Vor allem vergleichsweise kurzlebige Isotope wie Plutonium 238 mit einer Halbwertzeit von 88 Jahren führen zu schweren Schäden. Was die langfristigen Auswirkungen einer Verseuchung mit Plutonium 239 - Halbwertzeit 24.000 Jahre - angeht, kann ich keine Prognosen anstellen, auch weil nicht bekannt ist, welche Mengen ausgetreten sind.
SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet eine Kontaminierung für die Trinkwasserversorgung im Land?
Dersee: Das ist ein Riesenproblem. Japan und speziell Tokio werden überwiegend mit Oberflächenwasser versorgt, also Wasser aus Flüssen und Regenwasser aus großen Reservoirs, in denen man bereits erhöhte Werte gemessen hat. In Schweden gibt es infolge des GAUs in Tschernobyl noch heute stark mit langlebigem Cäsium verstrahlte Seen und kontaminierte Fische.
SPIEGEL ONLINE: Wäre mehr Personal am Reaktor hilfreich?
Dersee: In Tschernobyl wurden geschätzte 800.000 Liquidatoren zum Dienst abkommandiert, von denen viele schwere gesundheitliche Schäden davontrugen. Ein Einsatz von dieser Dimension wäre in Japan sicherlich nicht möglich.
SPIEGEL ONLINE: Japan hat jetzt Hilfe von US-amerikanischen, französischen und russischen Experten angefragt. Können die helfen?
Dersee: Die können auch nicht mehr tun. Das ist der Fluch dieser Technik. Kein anständiger Ingenieur baut solche schwer zu kontrollierenden Anlagen - und dann auch noch in einem Erdbebengebiet.
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