Vor einigen Tagen benutzte ich, spätnachts und allein, den öffentlichen Personnennahverkehr. Wie das so ist, wenn man Samstagnacht allein durch eine düstere Stadt zieht, schob ich einen ziemlichen Blues. Ich starrte finster mein Spiegelbild in der zerkratzen Scheibe an und versuchte, es zum Wegschauen zu bewegen. Irgendwann verlor es das Interesse daran und versteckte das rechte Auge hinter einer zerkratzten Stelle. Ich zwang es durch schiere Willenskraft dazu, mir wieder in die Augen zu sehen. Gerade als es sich fügen wollte, setzten sich zwei Türken neben mich. Es waren keine Weddinger Duchschnittstürken, Gemüsehändlersöhne oder Dönerbudenbetreiber, es waren echt fiese Berlin-Mitte-Gangstertürken. Ohne Zweifel nicht ohne Stil, und ohne Zweifel zusammen fünfmal so schwer wie ich. Im Wagen gab es genug Platz, ausser mir und meinem Spiegelbild war nur noch eine sabbernde Schnapsleiche mit Aloa-Hawaii-Blütenkranz anwesend, aber den beiden Gangstern war nach Kontakt zumute, und also setzten sie sich zu mir. Der eine, besonders wulstlippig und schwer, machte sich gegenüber breit. Ich war in finsterer Stimmung und gab mit meinem Knie keinen Zentimeter Herrschaftsgebiet verloren. Trotzdem schielten ich und mein Spiegelbild etwas besorgt auf die Stahlkette um den Hals des Gangstertürken. Sah so aus, als ob ich sie auch nach drei Monaten Krafttraining nicht mal hätte anheben können. Der andere Gangstertürke sass im toten Winkel rechts neben mir, und fühlte sich, was physische Präsenz anging, etwas schmächtiger an, machte das aber wett, indem er im toten Winkel rechts neben mir beunruhigende Dinge tat, die ich nicht mitbekam. Der dicke Gangster-Gegenübertürke klappte seine knittrige BZ auf, blätterte auf Seite drei und sagte: Geile Fotze. Dann blätterte er nochmal um, dann wieder zurück, öffnete die Lippen, blies Luft durch und sagte: Geile, uh, uh, geile, geile Fotze. (Mein Spiegelbild versuchte interessiert in die BZ zu linsen, aber ich brachte es mit gerunzelter Stirn wieder unter Kontrolle). Der dicke Gangstertürke hob in einer etwa zweiminütigen umständlichen Prozedur die rechte Arschbacke zehn Zentimeter an, machte ein Gesicht wie der Weihnachtsmann im zu engen Kamin, lächelte dann und machte "Uuuuuuuuh". Der Totewinkeltürke stupste mich an, hielt mir ein vakuumverpacktes Stück Sandwich unter die Nase und sagte: "Willst du essen? Wir haben gekauft, aber ist Schwein". Ich sagte freundlich, aber ohne hinzusehen "Nein danke" und hielt das für eine blendende Strategie. "Wir haben gekauft, aber ist Fleisch von Schwein!" beschwerte sich der Totewinkeltürke. Der dicke Gegenübertürke stopfte ihm daraufhin die zusammengerollte BZ ungefähr zehn Zentimeter in den Mund und schüttelte sie dabei knisternd hin und her. Mir schien, die Hackordnung zwischen den beiden stand schon länger fest. Mir schien auch, dass ich und mein Spiegelbild darin noch keinen Platz hatten, und zumindest ich für meinen Teil hatte wenig Lust, mich um einen zu bewerben. Dann ging der dicke Gegenübertürke wortlos weg, weiss der Geier wohin, ich zog es vor nicht nachzuschauen und versuchte statt dessen zu ahnen, was der Sandwichtürke anstellen würde. Er stupste mich an und sagte: "Du essen Schwein"? Ich antwortete: "Ja, ich esse Schweine. Sogar sehr gerne!" Was hätte ich auch sonst sagen sollen. "Aber du willst nicht essen diss? Iss Schwein! Wir haben gekauft! Aber iss Schwein!" - "Nein, danke." - "Aber du doch isst Schwein?" - "Nicht um diese Uhrzeit." - "Bist du schwul?" Die Frage war mir nicht ganz klar. Unter allen Anzeichen für Homosexualität war mir die Absicht, spätnachts trotz Ungläubigkeit korangerecht den Genuss von Schweinefleisch zu verweigern, immer als das mit der geringsten Beweiskraft erschienen. Ich sagte: "Nein, kein Stück", dachte dann aber: Wie jämmerlich von dir, das geht den Sandwichtürken doch nun wirklich gar nichts an. Mein Spiegelbild guckte auch schon empört und verlangte wütenden Blicks von mir, dem Sandwichtürken jetzt mal die Meinung zu geigen und ihn darüber aufzuklären, dass seine freundliche Absicht, mir sein heidnisches Nachtmahl zu vermachen, keinen Anspruch auf Auskunft über sexuelle Vorlieben begründete. Glücklicherweise stiegen jetzt aber etwa vierzig extrem unangenehme betrunkene Gewerkschafter mit Lehrerbärten und kleinen blauen Plastik-Radauautomaten zu, die vermutlich irgendwo für die kommunistische Internationale gekämpft hatten. Sie verkündeten jedenfalls, vierzig Mann stark wie sie waren, erst einmal: "Scheiss Türken!". Soweit wäre ich nicht gegangen, aber ich war ja auch nur mit meinem Spiegelbild unterwegs, die Gewerkschafter waren dreissig Mann, ein paar hatten ihre Weibchen, die anderen immerhin Radauautomaten dabei. Da kann man schon mal "Scheiss Türken" zu einem Sandwichgangstertürken sagen, wenn man so viele ist und in so gehobener Stimmung. Ich war sofort auf der Seite des lästigen Sandwichtürken. Der hatten den Blickkontakt zu seinem dicken Boss verloren, da standen jetzt vier Gewerkschafter dazwischen und erzählten Herrenwitze. Mein Sandwichtürke war sichtlich ein Opfer der lauernden Fremdenfeindlichkeit, und weil er genau besehen eigentlich selbst ziemlich flaumbärtig war und sein wulstlippiger Gangsterfreund nicht zu sehen, trollte er sich. Das Sandwich hat er mir dagelassen, es lag auf der Bank gegenüber, genau auf dem Gangsterbossfurz. Mein Spiegelbild sagte zu mir: Wenn du politisch korrekte Arschgeige jetzt noch reuig das Teil da isst, schau ich dich nie wieder an. Das fand ich korrekt und lies das Sandwitch, wo es war. Gut, dass mein Spiegelbild immer weiss, wo's langgeht.
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