Einsam. | Das Jahresthema 2005 heißt schlicht "Einsam." Die Jahresthemen der letzten Jahre und auch der kommenden Jahre widmen sich einer recht genau zu beschreibenden Gruppe von Menschen: Familien, Pflegebedürftige, Arme, Kranke. Bei "Einsam." ist das anders. Jung sein, alt sein, allein sein, zu zweit sein kann einsam sein bedeuten. Einsam können reiche und arme Menschen sein, mit oder ohne einen Arbeitsplatz, gesund oder krank, Mann und Frau.
| | | Der Horizont des Jahrethemas ist weit. Und jeder von uns hat wohl eine Ahnung, was "einsam sein" bedeutet. "Einsam sein" kann heißen, niemanden zu haben, sich nicht mehr verstanden zu fühlen, kein Gegenüber mehr zu spüren. Da ist keiner, den man anschauen könnte und der zurückschaut. Es ist eine menschliche Urerfahrung, daß wir andere Menschen brauchen, damit wir sein können. Man kann soweit gehen zu sagen, daß dies eine fundamentale Bedingung von Menschsein ist. Wenn ein Kind nicht die Sicherheit und die Anerkennung erlebt, daß es gewünscht, geliebt und gewollt ist, dann wird es in seinem späteren Leben mit großer Wahrscheinlichkeit Probleme haben, sich selbst so zu akzeptieren, wie es ist. Wenn da kein anderer ist, der dies vermittelt, dann ist Einsamkeit. Einsamkeit kann auch Kinder treffen.
| | | Einsamkeit kann jeden treffen. Einsamkeit ist meistens nicht einfach zu erkennen, denn Menschen sind ja gerade deshalb einsam, weil niemand schaut. Das Jahresthema 2001 ist ein enormer Appell an unsere Aufmerksamkeit.
| | | "Einsam." hat noch weitere Facetten. Einsam sind Menschen, weil niemand nach ihnen schaut oder niemand ihnen zuhört. Wenn dieser Satz so stehen bleibt, macht er aus einsamen Menschen noch dazu passive Menschen. Man könnte schnell meinen, daß einsame Menschen von unserer Hilfe und Aufmerksamkeit abhängig sind. Anders klingt da die Frage Jesu an den blinden Barthimäus: was willst Du, das ich Dir tue? Hier wird der Hilfsbedürftige in volle Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung gestellt. In dieser Spannung bewegt sich "Einsam.": einsame Menschen sind in der Regel voll handlungsfähige Menschen, die Ermutigung brauchen, die Vertrauen geschenkt bekommen müssen als Aufforderung, selber wieder zu vertrauen.
| | | Eine weitere Facette von Einsamkeit ist in den letzte Wochen und Monaten sehr deutlich geworden. Einsam zu sein, ist nicht nur ein individuelles Phänomen. Einsamkeit hat auch eine ganz spezifische gesellschaftliche Seite: ich bin sicher, daß der z.B. Obdachlose, der im Sommer in Greifswald vom rechten Mob totgetreten worden ist, mutterseelenallein war in tiefster Not. Diskriminierte, verfolgte und bedrohte Menschen können regelrecht in die Einsamkeit gedrängt werden, und zwar auch von denen, die nicht Einhalt gebieten.
| | | Und noch eine letzte Facette soll erwähnt werden. Einsamkeit hat eine tiefe spirituelle Seite: Einsamkeit kann frei machen für die Begegnung mit Gott. Viele Mystikerinnen und Mystiker legen davon Zeugnis ab; die Bibel ist voller Bilder und Geschichten dazu. Dieser Hinweis soll nicht verharmlosen oder gar religiös versüssen, was viele Menschen quält. Es geht darum, die Vielschichtigkeit des Jahresthemas zu verdeutlichen. Kann "Einsam." vielleicht auch eine Aufforderung sein, Räume und Orte zu schaffen, in denen und an denen Gottesbegegnung möglich ist? Oder, etwas weniger anspruchsvoll, zumindest für die Spannung zu sensibilisieren, die zwischen Geselligkeit, Miteinander, Gesellschaft und Einsamkeit, Rückzug und Stille besteht?
| | | Das Thema ist sehr anspruchsvoll. Jeder und jede von uns ist persönlich gefordert, den Blick für die Menschen um uns herum zu schärfen. Gleichzeitig gibt es aber auch gesellschaftliche und soziale Bedingungen, die Einsamkeit forcieren. Diesen Rahmenbedingungen müssen wir begegnen, sie öffentlich benennen und ihnen entgegenwirken. Das Jahresthema ist eine sehr klare Herausforderung, diese Umstände in den Blick zu nehmen und ihnen entgegen zu wirken.
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