"Es könnte auch Zufall sein"
Die Leiterin des Instituts für Biometrie der Uni Mainz über Plausibilität von Zusammenhängen, Überzufälligkeit und die Konsequenzen aus der letzten Studie über AKWs.
Was ist die Kernaussage der Studie?
Wir haben bei Kindern unter fünf Jahren, die in der Nähe von Kernkraftwerken wohnen, ein erhöhtes Leukämierisiko beobachtet. Das ist eigentlich nichts ganz Neues, da 1993 und 1997 Studien des Deutschen Kinderkrebsregisters vorausgegangen waren, in denen etwas Ähnliches gezeigt wurde. Wir haben diese Studien mit anderen Methoden wiederholt, bis 2003 erweitert und das Ergebnis bestätigt.
Aber eigentlich haben doch die beiden von Ihnen zitierten Studien des Kinderkrebsregisters bei Kindern unter 15 kein erhöhtes Leukämierisiko im 15-Kilometer-Umkreis von Akws gefunden.
Ja, diese Studien waren angelegt für Kinder unter 15 Jahren. Da haben wir keine Erhöhung gesehen. Dann haben einige Leute die Daten neu ausgewertet. Den Umkreis um die Kraftwerke wurde auf fünf statt 15 Kilometer begrenzt und das Alter der Kinder auf fünf begrenzt. In dieser Gruppe sehen Sie dann eine Erhöhung. Wir vom Kinderkrebsregister haben dem wenig Bedeutung beigemessen.
Warum nicht?
Wenn man viele Daten hat und nach Auffälligkeiten sucht, findet man oft, wie in diesem Fall, erhöhte Werte. Daraufhin wurde die jetzt veröffentlichte dritte Studie begonnen. Das Design dieser Studie war schon durch die von uns beobachtete Erhöhung in der Gruppe der bis Fünfjährigen beeinflusst. Zunächst hatte ich geglaubt, es handele sich nur um ein Scheinergebnis, ein methodisches Artefakt.
Jetzt würden Sie sagen, dass es kein Scheinergebnis ist?
Ja, aber ich würde noch nicht sagen, dass die Erklärung gefunden ist. Nach allem, was wir aus der Strahlenbiologie wissen, können die Leukämien nicht durch die Strahlenbelastung durch die Kernkraftwerke ausgelöst worden sein. Das ist nicht plausibel. Die Strahlung aus den kerntechnischen Anlagen ist um das 1000- bis 100 000-fache geringer als die natürliche Strahlung, der wir alle ausgesetzt sind. Und sie ist viel kleiner als die Belastung durch Röntgen oder etwa beim Fliegen.
Trotzdem sagt Wolfram König, Präsident des Bundesamts für Strahlenschutz, dass Strahlung als Ursache nicht auszuschließen ist.
Wenn er darauf Hinweise hat, dann weiß er mehr als wir.
Was könnte dann die Ursache sein?
Das große Problem ist, dass wir über Risikofaktoren für Krebs und Leukämien immer noch zu wenig wissen. Es können genetische Faktoren sein, es kann die Umwelt sein. Oder beides.
Das Bundesamt für Strahlenschutz behauptet, dass weltweit Untersuchungen zum gleichen Ergebnis gekommen sind.
Ja, es existieren ähnliche Untersuchungen, die stets zitiert werden. Das sind natürlich die auffälligen Studien. Doch es gibt natürlich genauso viele, die nicht auffällig sind. Methodisch nennt man das Publikationsbias, eine Verzerrung der wirklichen Situation.
Was bedeutet das?
Wenn bei meiner Studie keine Erhöhung der Leukämierate gefunden wird, kann ich sie nicht entsprechend veröffentlichen, weil sie keinen Wirbel macht. Oder ich entschließe mich, meine Ergebnisse gar nicht zu veröffentlichen. Wenn man sich weltweit alle Studien zu diesem Thema anschaut, dann gibt es immer wieder Erhöhungen, aber nicht generell bei Kernkraftwerken. Unfälle wie der von Tschernobyl natürlich ausgenommen.
Das Ergebnis könnte Zufall sein?
Es könnte auch Zufall sein.
Obwohl die Ergebnisse signifikant sind, also statistisch bedeutsam?
Das ist die Schwierigkeit: Signifikant heißt ja überzufällig. Aber wenn man 100 solche Studien macht, würde man auch fünf bekommen, die signifikant sind. Obwohl nichts dahintersteckt. Der andere Punkt: eine solche Häufung könnte es auch um andere Standorte geben, etwa rund um Kohlekraftwerke, um Brückenbauten, Kirchtürme, große Industrieanlagen. Also genau dort, wo es in bisher ländlichen Regionen plötzlich einen großen Zuzug gibt.
Gibt es Studien, die das belegen?
Es wurde untersucht, ob an Standorten, an denen kerntechnische Anlagen geplant, aber nie gebaut wurden, ähnliche Effekte zu sehen sind. Das war so.
Aus Sicht von Greenpeace sind die Atommeiler der Grund für die Häufung der Leukämiefälle.
Ja klar. Die Diskussion um Akws wird nun wiederbelebt. Manche sagen nun: Akws abschalten. Aber so lange wir nichts über die Kausalität wissen, ist dies nicht gerechtfertigt. Außerdem müsste man dann wegen der Höhenstrahlung das Fliegen verbieten, Röntgen verbieten, Bergwandern in den Alpen verbieten, Autobahnen zumachen.
Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein?
Wir sprechen von einem bis 1,2 Fällen pro Jahr. Natürlich, jedes Kind, das Krebs hat, ist zu viel. Aber man sollte das im Verhältnis zu anderen Gefahren sehen. Leukämie ist selten, jedes Jahr erkranken fünf von 100 000 Kindern. Es gibt keinen Grund zur Panik.
Welche Konsequenzen werden Sie ziehen?
Wir werden vermutlich eine Expertenkommission zusammenstellen und mit diesen die Ergebnisse diskutieren. Aber es hat leider auch Ärger auf der politischen Ebene gegeben.
Inwiefern?
Warum werden Ergebnisse vorab veröffentlicht? Warum gibt es eine Pressekonferenz, bei der die Studie vom Bundesamt für Strahlenschutz präsentiert wird, von der ich als Leiterin der Untersuchung nichts weiß?
Sie würden nicht noch einmal in so einer Kommission mitarbeiten?
Das ist die große Frage. Wir haben eine Kommission gehabt, die im Wesentlichen mit Atomkraftwerkgegnern besetzt war. Die Zusammenarbeit war nicht ganz einfach.
Das hat trotzdem funktioniert?
Es war schwierig. Aber wir haben unsere Studie so gemacht, wie wir es für richtig halten. Und um auch mal etwas Positives zu sagen: Leukämie ist bei Kindern mittlerweile sehr gut heilbar. Das ist ein echter medizinischer Fortschritt dank guter Forschung.
Das Gespräch führte Hartmut Wewetzer.
Maria Blettner (55) leitet das Institut für medizinische Biometrie der Uni Mainz. Sie war federführend bei der Studie zu Kinderkrebs in der Nähe von Atomkraftwerken.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 11.12.2007)
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