11.10.2003 06:06 Lichtblick in dunkler Landschaft Altkanzler Helmut Schmidt sezierte im oberschwäbischen Weingarten die deutsche Misere VON DIETER LöFFLER 1980 war er schon einmal da gewesen. Damals war er noch Bundeskanzler, es herrschte Wahlkampf und Franz Josef Strauß rüttelte an den Türen des Kanzleramts: Geduldig wartete die Ravensburger Oberschwabenhalle auf Helmut Schmidt, den sozialdemokratischen Amtsinhaber. Doch der ließ auf sich warten, als habe er diesen CDU-gesättigten Landstrich schon abgeschrieben. Endlich landet der Hubschrauber, Schmidt eilt auf die Bühne. Seine Entschuldigung ist den Ravensburgern bis heute in bester Erinnerung geblieben: "Diese Gegend ist so schwarz, dass der Pilot nichts sehen konnte."
23 Jahre sind seither vergangen. Vieles, sehr vieles hat sich inzwischen geändert - bis auf zwei Dinge: Oberschwaben blieb schwarz, Schmidt blieb schlagfertig. In wenigen Monaten, am 23. Dezember, wird der Altkanzler 85 Jahre alt. Noch immer sagt er mit gewohnter Schärfe, was er zu sagen hat, sei es in der "Zeit" oder aber bei Vorträgen irgendwo in der Republik - beispielsweise in Weingarten, wo er im voll besetzten Kongresszentrum die Ursachen der deutschen Misere analysierte. Schon der Begrüßungsapplaus zeigt: Keinem anderen sozialdemokratischen Spitzenpolitiker ist es jemals gelungen, so weit ins bürgerlich-konservative Revier vorzudringen wie Helmut Schmidt.
Als Ehemaliger genießt Schmidt die Freiheit, die Dinge beim Namen zu nennen. Auf die Empfindlichkeiten der Wähler muss er keine Rücksicht mehr nehmen. Die Lage Deutschlands fasst er in einem kurzen, gnadenlosen Satz zusammen: "Konjunkturell sind wir in einer Rezession." Das Land befinde sich im Niedergang, denn: "Die wirtschaftlichen Strukturen sind nicht in Ordnung." Bei Sätzen wie diesen betont er jede einzelne Silbe, wie ein Pädagoge, der in der Wiederholung den Grundstock allen Lernens sieht.
Schmidt nennt Beispiele. 80000 Seiten umfasse mittlerweile das deutsche Gesetzes- und Verordnungswerk, ein Paragraphenwust, den niemand mehr überblicke. So ersticke die deutsche Regelungswut jeden Unternehmergeist. "Die Arbeitslosigkeit ist zu zwei Dritteln hausgemacht", sagt der Altkanzler. So kennt man ihn, mit schneidend-kalten Sätzen, die keinen Widerspruch dulden. Weiter geht es mit unangenehmen Wahrheiten. Jeder zehnte Deutsche hat keinen Arbeitsplatz. Es werden immer weniger Kinder geboren. Der Osten holt nicht mehr auf, seit sieben Jahren nicht mehr. Nur die Renten sind dort besser als im Westen, sonst nichts.
"Es ist einiges faul in Deutschland", bilanziert der 84-Jährige, um dann salopp fortzufahren: "Aber bildet euch nicht ein, dass ihr die Einzigen seid, die Probleme haben." Alle Länder Europas, auch die USA, hätten mit der Rezession zu kämpfen, Japan sogar schon seit zwölf Jahren. Die einzige Ausnahme, weltweit, sei China - "ein riesenhaftes Land, 1200 Millionen Menschen, eine immens fleißige Bevölkerung." Nur dort gehe es steil aufwärts, weil alle mit anpackten und mit anpacken müssten. In den Augen Schmidts ist Arbeitslosigkeit nicht nur ein persönliches Schicksal, sondern auch ein volkswirtschaftlicher Irrsinn: Unsere Gesellschaft leiste sich den Luxus, in ungeheurem Umfang Arbeitskraft nicht auszunutzen und Ressourcen brachliegen zu lassen.
90 Minuten spricht der 84-Jährige, ohne Manuskript. Allein in den körperlichen Gebrechen macht sich das Alter bemerkbar. Zum Gehen benötigt er einen Stock und ist dem Schicksal doch dankbar, dass er nicht im Rollstuhl sitzen muss wie sein Freund Hans-Jürgen Wischnewski. Auch das Gehör macht nicht mehr mit, nachdem er 1999 einen Hörsturz erlitten hatte. Dazu kam im August 2002 ein schwerer Herzinfarkt. Ein Bypass wurde gelegt, lange bangte man um das Leben des Altkanzlers. Davon freilich spürt man in Weingarten wenig. Wie in alten Tagen zündet sich Schmidt auf der Bühne eine Zigarette an, bald folgt die nächste. Zwischendurch genehmigt sich der Genesene Schnupftabak aus einer blauen Plastikdose, "Gletscherprise", die angestammte Marke.
Dieser Mann, das spürt jeder im Saal, lässt sich von niemand und nichts unterkriegen. Weitsicht und Stehvermögen bescheinigt ihm sein Biograph Michael Schwelien, aber auch Ungeduld und Arroganz. In Weingarten gibt es von allem etwas. Pessimismus verbietet er sich. "Das alles ist nicht zum Verzweifeln", sagt Schmidt, als er sein Bild von der deutschen Misere fertig gemalt hat. Die Situation sei "von Menschen gemacht und kann deshalb auch von Menschen geändert werden".
Was tut in seinen Augen not? "Die Macht des Tarifkartells aushebeln", sagt der Sozialdemokrat Schmidt. Die Gewerkschaften hätten die Löhne ständig höher getrieben und Arbeit immer teurer gemacht - "das ist eine der Ursachen unserer Arbeitslosigkeit". Und: Die Deutschen müssten sich darauf einstellen, dass es für weniger qualifizierte Arbeit in Zukunft weniger Geld gebe und dass der Staat dem Bürger nicht alle Risiken abnehmen könne. Erst dann werde Arbeit billiger und es entstünden neue Jobs. Schröder habe das begriffen, Frau Merkel ebenfalls. Agenda 2010 und die Herzog-Kommission kämen daher zu überaus ähnlichen Lösungsansätzen.
Was taugen solche Ratschläge? In der SPD hört niemand auf den Altkanzler. Schmidt gesteht offen, er fühle sich manchmal wie ein Altbauer, der lange genug selbst den Hof umtrieb und nun sehen muss, wie die Jungen alles anders machen. In allen Parteien seien Taktierer am Werk, und am schlimmsten sei es, wenn sie "in diesen albernen Talkshows auftreten".
Auf bessere Politiker warten also? Schmidt schüttelt den Kopf. Er ist bei seinem Lieblingsthema angekommen, den Medien. Die Zeitung, so sagt er, zwinge den Leser zum Denken. Das Fernsehen hingegen verleite alle zur Oberflächlichkeit, Auftretende wie Zuschauer. Das habe Konsequenzen für die Politik. "Es ist ein großer Unterschied, ob Sie ein lesendes Volk regieren oder ein glotzendes."
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