Der Trend zur Individualisierung und Zersplitterung zumindest in den Gesellschaften Westeuropas hält an: Dauerhafte Bindungen an Familie, generell an Gemeinschaft werden als ?Hemmschuh? empfunden. Das bekommen auch die Kirchen zu spüren: Die Zahl der Mitglieder und Gottesdienstbesucher nimmt fast kontinuierlich ab. Umfragen scheinen zu belegen, dass Kirche, wenn es um gesellschaftliche Maßstäbe und Werte geht, zunehmend an Einfluss verliert. Es lässt sich ein immer stärkerer Schwund des Glaubenswissens beobachten, eine erschreckende Unkenntnis der Bibel und der christlichen Glaubensinhalte, wohl auch deshalb, weil die früher selbstverständlichen Räume der Glaubenstradierung ? das heißt: die Familie und die konfessionellen Milieus ? heute weitgehend wegfallen. Die modernen Gesellschaften Westeuropas sind plurale Gesellschaften. Somit sieht sich das Christentum in zunehmender Konkurrenz mit anderen weltanschaulichen und religiösen Strömungen. Die Migrationsbewegungen seit den sechziger und siebziger Jahren haben dazu geführt, dass eine immer größere Zahl Menschen mit unterschiedlichem kulturellem und religiösem Hintergrund nach Westeuropa einwanderte.
Der Austausch, auch die Auseinandersetzung mit anderen Religionsgemeinschaften ? seien es Muslime, sei es die größer werdende Gruppe der Buddhisten in Deutschland ? ist Herausforderung und Chance zugleich. Die wachsende ?Konkurrenz? kann durchaus eine Profilschärfung der christlichen Kirchen bewirken. Christen sind herausgefordert, sich öffentlich zu exponieren und zu bekennen, woran sie glauben.
Das gilt übrigens nicht nur in der Auseinandersetzung mit anderen Religionsgemeinschaften, sondern auch mit säkularen Gruppen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dazu müssen Christen schwierige Vermittlungs- und Übersetzungsprozesse leisten. Denn wenn sie an wesentlichen gesellschaftlich-politischen Entscheidungsprozessen teilhaben wollen, müssen sie die Diskussion auf der säkularen und der biblisch-christlichen Ebene führen und zwischen beiden Ebenen vermitteln.
Ein gelungenes Beispiel ist das Sozialwort der Kirchen von 1997: Dort finden sich sowohl sachlich-ökonomische und sozialpolitische als auch juristische Argumentationslinien. Zugleich gibt es Rückbezüge auf spezifisch christliche Motivationen, deren Quellen in der Bibel und der sozialethischen Tradition der Kirche liegen.
Der Soziologe Heiner Bielefeldt, Direktor des neu gegründeten Deutschen Instituts für Menschenrechte in Berlin, sagt: ?Eine Religionsgemeinschaft, die mehr sein will als eine kleine Nische der Gesellschaft, die mehr sein will als eine Sekte, mehr als eine Binnengruppe, muss genau diesen Übersetzungsprozess leisten.? Der spezifische Beitrag der Christen in der heutigen Gesellschaft ist vor allem ihre eigene Praxis: Wenn sie eine Lebenspraxis, einen Lebensstil entwickeln, der zeigt, was christliche Botschaft als gelebte Botschaft bedeutet, wenn sie dann ? aufgrund dieser Praxis ? in ihrem Glauben angefragt werden und in der Lage sind, diesen Glauben nachvollziehbar und überzeugend zu erklären, dann hat das Christentum zweifellos eine Zukunftsperspektive.
Kirchliches Leben hat seit den Anfängen, als Paulus die ersten Gemeinden außerhalb der Jerusalemer Urgemeinde gründete, stets auf drei Säulen beruht: Verkündigung des Evangeliums, Zeugnis und Karitas, das heißt Fürsorge für den Nächsten. Und dieses ganzheitliche Modell wird auch heute in vielen Gemeinden praktiziert: da, wo es zum Beispiel Besuchsdienste für Alte und Kranke oder praktische Hilfen für Obdachlose gibt, wo in Gemeindegruppen aktuelle Probleme wie Umweltzerstörung und Arbeitslosigkeit ?angepackt? werden.
Der Religionssoziologe Karl Gabriel, Professor an der Universität Münster, warnt ausdrücklich vor Forderungen an die Kirchen wie: Zurück zum ?Kerngeschäft?! Die Kraft des Christentums liege gerade darin, dass es ?Kompaktlösungen? biete, sich also nie auf den rein religiösen Bereich zurückziehe oder auf diese Richtung hin definiert werde. Deshalb, so Gabriel, dürften sich Christen nicht ?in die Sakristei? abdrängen lassen, ?damit das Christentum nicht nur überleben, sondern damit es leben kann: Das gelebte Christentum ist eines, das sich nicht auf eine enge religiöse Praxis beschränken lässt.?
?Der ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen steht im Mittelpunkt?, heißt es in ?Gaudium et spes?, einem der wichtigsten Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es hat eine Öffnung der Kirche gegenüber der Welt, ihren Problemen und Fragestellungen eingeleitet. Und dieser Prozess dauert an: Nur wenn Christen sich immer wieder neu den je unterschiedlichen Herausforderungen in einer sich wandelnden Gesellschaft stellen, wenn sie immer neu versuchen, am Heute orientierte Lebenslösungen zu finden, bleibt die Lebenskraft des christlichen Glaubens erhalten.
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