Persönlich war ich auch in Wirecard investiert. Mein Einstiegskurs lag gemittelt bei ca. 87?, mein Ausstiegskurs am Donnerstag (18.06.2020) bei exakt 55?. Ich habe also auch erst nach der Meldung, dass kein Testat erfolgt ist, verkauft, und ärgere mich im Nachhinein, dass ich nicht gleich morgens verkauft habe, als klar war, dass die Meldung vorbörslich nicht kommt. Nun, ich habe ein paar Tausend Euro verloren, habe aber Risikomanagement in dem Sinne betrieben, dass die Position bezogen auf mein Gesamtportfolio sehr klein war. Von daher geht der Verlust in den täglichen Schwankungen des Depots unter.
Den Neustart 2020, der hier beschworen wird, sehe ich nicht, und ich bin froh, nicht mehr dabei zu sein. Im Nachhinein gab es so viele rote Flaggen, dass ich mich ärgere, dass ich hier überhaupt investiert habe. Nun, die Gier hat mal wieder die Vernunft geschlagen, ja sogar ein anderes Gefühl, nämlich mein ungutes Bauchgefühl. Es gibt ja nicht erst seit gestern begründete Zweifel an Wirecard; die Skandale ziehen sich über viele Jahre.
Vieles wissen wir noch nicht, aber was wir wissen, reicht mir aus, um hier nicht investiert zu sein. Denn entweder hat Wirecard selbst im großen Stil betrogen, oder Wirecard hat es zugelassen, im großen Stil betrogen zu werden. Beides ist nicht gut für die Reputation, gerade als Finanzdienstleister.
Da sich nun so einiges bewahrheitet hat, was Wirecard vorgeworfen wurde, glaube ich persönlich, dass noch viel mehr dieser Vorwürfe tatsächlich zutrifft. Belege gibt es dafür noch nicht, aber ein Bilanzbetrug durch Wirecard selbst wäre eine einfache und plausible Erklärung für zahlreiche Beobachtungen, die man über die Jahre machen konnte, so etwa die Intransparenz der Geschäftsführung und ihr mangelnder Wille, Vorwürfen nachzugehen und sie auszuräumen; der große Cashbedarf des Unternehmens und die teuren Übernahmen (die Erklärungen lieferten, warum man Cash brauchte); die Zusammenarbeit mit windigen Geschäftspartnern und die Unkenntnis angeblicher Geschäftspartner von ihrer Geschäftsbeziehung mit Wirecard; die hohen Umsätze und Margen in Asien, die so ganz anders als im offenbar strenger regulierten Europa waren; und, und, und... die Liste ist sehr lang.
Natürlich kann man auch nicht ausschließen, dass Wirecard selbst nicht betrogen hat und nur mafiaähnlichen Strukturen in Dubai, Singapur oder den Philippinen aufgesessen ist. Dann hätten aber die Kontrollmechanismen des Unternehmens über Jahre versagt, was auch kein gutes Licht auf das Wirecard wirft. Gerade nach den vielen Vorwürfen hätte man doch selbst der Sache nachgehen müssen - das hat man aber nicht! Warum?
Für mich ist es mithin wahrscheinlich, dass es das "tolle operative Geschäft" von Wirecard nie gegeben hat. Von daher halte ich auch einen Neustart für unwahrscheinlich.
Bitte bezieht auch die Klagewelle, die auf Wirecard zukommt, in eure Überlegungen mit ein. Das könnte richtig teuer werden. Glaubt jemand ernsthaft, die Geschäftsführung wusste bis Donnerstagvormittag nichts von den 1,9 Mrd. Euro und davon, dass ein uneingeschränktes Testat unwahrscheinlich war? Hätte das dann nicht öffentlich kommuniziert werden müssen in einer Ad-hoc-Meldung? Die Risiken in der Bilanz und die Risiken durch die Klagen machen es meiner Meinung nach sehr unwahrscheinlich, dass es zu einer Übernahme kommt. Man wird sich eher ganz risikolos und billiger an der Konkursmasse bedienen.
Das ist alles nur meine Meinung, und es gibt auch sicher Gründe, die Angelegenheit anders zu beurteilen. Für mich wäre das Risiko, dass Wirecard selbst das Problem ist, viel zu hoch. Es gibt so viele andere Möglichkeiten, in wirklich gut geführte, transparente Unternehmen zu investieren!
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