Gedankenexperiment Seit Monaten flirtet Donald Trump öffentlich mit dem Gedanken, eine mögliche Wahlniederlage im November nicht anzuerkennen und einfach im Amt zu bleiben. Nur Prahlerei und Provokation? Mag sein. Aber tatsächlich gibt es einen Weg, wie Trump Präsident bleiben könnte, selbst wenn er die Wahl verliert. Einen völlig legalen, historisch erprobten Weg. Es braucht dafür keinen Putsch, keine massive Wahlfälschung. Es steht ein Verfahren bereit, das die US-Verfassung für besonders knappe oder unübersichtliche Wahlergebnisse vorsieht.
Ein Gruselmärchen? Hoffentlich. Aber keineswegs sicher. Diese Möglichkeit lässt viele von Trumps scheinbar absurden Tweets in einem neuen Licht erscheinen. Vergangene Woche twitterte er, vielleicht sei es besser, die Wahl zu verschieben. Am Montagabend kündigte er an, die Möglichkeit der Briefwahl eventuell einzuschränken oder gleich ganz zu verbieten. Und permanent attackiert er das Wahlsystem: Die Wahl im November könne die "korrupteste in der Geschichte unseres Landes werden", behauptete Trump Ende Juli.
Noch sind es drei Monate bis zur Wahl, noch ist nichts entschieden, fast alles scheint möglich, ein Erdrutschsieg für Joe Biden ebenso wie eine Implosion des manchmal greisenhaft wirkenden Kandidaten der Demokraten. Oder ein Terroranschlag; eine Erkrankung des Herausforderers; ein katastrophaler Aussetzer während einer der geplanten Fernsehdebatten. Oder was auch immer. Der Ausgang der Wahl ist offen, auch wenn die Umfragen gerade gut aussehen für Biden.
Noch ist deshalb auch der Mechanismus, mit dessen Hilfe Trump im Weißen Haus bleiben könnte, nur eine juristische Option, tief verborgen im Dickicht der US-Verfassung, im 12. Zusatzartikel, der 1804 verabschiedet wurde. Historisch spielte diese Regelung bislang nur ein einziges Mal eine Rolle. Auch den meisten US-Bürgern dürfte sie unbekannt sein; noch wird sie vor allem von Verfassungsrechtlern und Politstrategen diskutiert. Aber wenn man sie einmal entdeckt hat, liest man den Wahlkampf unweigerlich anders.
|